Kristjan Järvi über das Konzert im Herkulesaal

Die Münchner Konzertsaison beginnt heute mit einem Gastspiel der Baltic Sea Philharmonic im Herkulessaal der Residenz. Das Orchester mit Musikerinnen und Musikern aus zehn Anrainerstaaten der Ostsee erzählt mit unkonventioneller neuerer Musik Geschichten aus dem Norden Europas. Dirigent ist der aus Estland stammende Dirigent Kristjan Järvi. Er lässt das vor zehn Jahren auf Usedom gegründete Orchester in einigen Stücken auswendig spielen.
AZ: Mr. Järvi, am Ende des Abends gibt es den ersten Satz einer „Rock-Symphony“ von Imants Kalnins. Ist damit der Felsen oder der Rock ’n’ Roll gemeint?
KRISTJAN JÄRVI: Beides. Das Stück des 1941 in Riga geborenen Komponisten entstand 1972 – also lange vor der Unabhängigkeit Lettlands in der Zeit der sowjetischen Herrschaft. Rockmusik in einer Symphonie steht für Amerika, den Westen und die Sehnsucht nach Freiheit. Es war ein symbolischer Protest. Außerdem stehen diese Länder und kleinen Nationen im Ostseeraum fest ein Felsen da und lassen sich nicht unterkriegen.
Wie klingt dieses Stück?
Es besteht aus einer großen Steigerung, ähnlich Ravels „Bolero“– nur moderner.
Wer ist Wojciech Kilar? Was muss man sich unter seinem Stück „Orawa“ vorstellen?
Ein Werk für Streicher. Kilar lebte von 1932 bis 2013. Ich halte ihn für einen der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts in Polen. Das Land war neben Finnland künstlerisch immer das fortschrittlichste Land im Ostseeraum. Orawa nennt sich eine Gegend der Karpaten. Das gleichnamige Stück spielt auf die minimalistische Volksmusik dieser Region an.
Im Konzert dirigieren Sie eine eigene Komposition mit dem Titel „Aurora“.
Es gibt davon mehrere Fassungen. „Aurora“ war ursprünglich ein Doppelkonzert für die Geigerin Mari Samuelsen und ihren Bruder, der Cello spielt. Er hat inzwischen die Musik völlig aufgegeben. Ich habe das Stück zum Violinkonzert umgearbeitet und den Cello-Part ins Orchester integriert.
Was bedeutet der Titel?
„Aurora“ meint einerseits den Sonnenaufgang und steht damit für den Neuanfang. „Aurora borealis“ ist außerdem der wissenschaftliche Begriff für das Nordlicht - als Symbol für das nordische Gefühl, das es auch in Hamburg, Rostock und Kiel gibt. Diese Städte sind sozusagen der skandinavische Teil Deutschlands.
Was macht dieses nordische Gefühl aus?
Die Deutschen sprechen von der Ostsee, in Estland spricht man dagegen vom Westmeer. Eigentlich ist es das Mittelmeer des Nordens. Ich mag den englischen Begriff „Baltic Sea“ lieber, weil er die Gemeinsamkeit betont - eine starke Verbundenheit mit der Natur, Freiheitssinn und ein Gefühl der geschwisterlichen Verbundenheit aller Menschen über alle politischen Grenzen und Systeme hinweg - von Norwegen bis Russland. Deshalb spielen wir auch Arvo Pärts „Fratres“.
Warum haben Sie die Baltic Sea Philharmonic gegründet?
Hier spielen Musiker aus allen Anrainerstaaten der Ostsee. Ich verstehe das Orchester als neue Hanse, die nicht dem Handel gewidmet ist, sondern der Kultur. Der Ostseeraum hat eine gemeinsame musikalische Sprache, die auf den finnischen Komponisten Jean Sibelius und seine intuitive Naturverbundenheit zurückgeht. Daher spielen wir auch eine Suite aus seiner Bühnenmusik zu Shakespeares „Sturm“. Übrigens gehört auch Richard Wagner musikalisch zum Ostseeraum: Er war kurz Kapellmeister in Riga, und sein „Ring des Nibelungen“ verarbeitet die nordische Mythologie.
Warum spielt das Orchester einige Stücke auswendig?
Noten sind für Musiker wie ein Rettungsring. Durch das Loslassen gelangt man auf eine ganz neue Ebene. Für mich ist das die völlige Emanzipation, ein Gefühl, ohne jede Grenze zu agieren – sei die nun mentaler Art, emotional oder in der Kommunikation. Das ist die Haltung, die dieses Orchester so einmalig macht.
Dienstag, 18. September um 20 Uhr im Herkulessaal der Residenz, Karten von 28 – 58 Euro unter Telefon 800 – 545 44 55 und an der Abendkasse ab 19 Uhr