Klanglese im Weinberg der Musik

Die Münchner Philharmoniker gastieren unter Valery Gergiev im neuen Konzertsaal von Paris
Robert Braunmüller |
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Die Münchner Philharmoniker gastieren unter Valery Gergiev im neuen Konzertsaal von Paris

Fertig ist die neue Philharmonie auch zwei Monate nach ihrer Eröffnung durch Präsident François Hollande noch nicht. Im Saal steht ein Gerüst, hinter der Bühne dominiert der Baustellenstaub. An manchen Stellen klaffen offene Wände. Mancher Teppich wellt sich. Abfälle wirft man in bereitgestellte Kartons. Eine Klingel fehlt auch: Das Personal bittet mit charmanten Zimbeln in den Saal. Nur das könnte so bleiben.

Trotzdem ist die neue Pariser Philharmonie eine Wucht. Die Münchner Philharmoniker, als erstes Orchester unserer Stadt zu Besuch im Neubau, waren von der Akustik begeistert. In vielem könnte das wie der Gasteig 2400 Hörer fassende Auditorium ein Vorbild für hiesige Neu- oder Umbaupläne sein.

Der Saal wirkt trotz seiner Größe ausgesprochen intim. Der Hörer ist näher dran an der Musik, das Erlebnis wirkt unmittelbarer. Es ist wie der Unterschied beim Fußball zwischen dem Olympiastadion und der Fröttmaninger Allianz-Arena.

Im Giesing von Paris und direkt am Mittleren Ring

Wie bei allen neuen Konzertsälen ist bereits die Architektur ein Spektakel: Die Außenhaut zeigt 340 000 stilisierte Vögel verschiedener Größen und Grautöne in Aluminium. Der Architekt Jean Nouvel wollte ursprünglich die Namen der gastierenden Orchester und Solisten in Riesenlettern draufprojizieren. Aber auch das funktioniert noch nicht.

Das Innere orientiert sich an der Weinbergform der Berliner Philharmonie. Auf den oberen Plätzen empfiehlt sich Schwindelfreiheit. Zwischen den Sitzreihen klaffen Stolperfallen. Obwohl die von Harold Marshall und Yasuhisa Toyota gestaltete Akustik auf Klassik berechnet ist, wird hier auch gerockt, gerappt und Weltmusik gespielt. Die erste Ausstellung im Foyer widmet sich bezeichnenderweise nicht Beethoven, sondern David Bowie.

Ein ganzes Kulturzentrum

Neben dem großen Saal gibt es großzügige Nebenräume für Proben und Bildungsprojekte, die in der hiesigen Münchner Neubau-Debatte eine zu geringe Rolle spielen. In manchem kann die Pariser Philharmonie auch als Warnung dienen: Die Baukosten von ursprünglich 200 Millionen haben sich fast verdoppelt. Die für 2012 geplante Eröffnung verschob sich um zwei Jahre. Der Architekt, dem die Schuld an der Verzögerung zugeschoben wird, blieb der Eröffnung beleidigt fern.

Auf Münchner Verhältnisse übertragen, steht der Neubau in Giesing – in einem weniger vornehmen Wohngebiet direkt an einer Stadtautobahn. Er vervollständigt ein größeres Kulturzentrum auf dem Gelände eines ehemaligen Schlachthofs im Parc de la Villette. Dort befinden sich Museen, Theater, eine historische Markthalle, ein Imax-Kino sowie die „Cité de la Musique“ mit dem Konservatorium, einem kleineren Konzertsaal und einer Musikinstrumentenausstellung. Und für Popkonzerte gibt es einen Saal, der den auch in unserer Stadt nicht gänzlich unvertrauten Namen „Zenith“ trägt.

Die Münchner Philharmoniker wiederholten bei diesem Gastspiel ihr Programm in memoriam Lorin Maazel vom vergangenen Freitag: Sol Gabetta interpretierte Dvoráks Cello-Konzert. Dann folgten zwei Tondichtungen von Richard Strauss, die der verstorbene Chefdirigent vor einem Jahr einstudiert hatte: „Also sprach Zarathustra“ und „Till Eulenspiegels lustige Streiche“.

Wieder ein Triumph des spontanen Musizierens

Maazels designierter Nachfolger Valery Gergiev leitete das Konzert. Er hatte die Strauss-Stücke im vergangenen April mit nur einer Probe in der New Yorker Carnegie Hall übernommen. Für den Pariser Auftritt mit seinem künftigen Orchester ließ er sie nun ein wenig nachreifen, ohne übertrieben viel Probenzeit darauf zu verschwenden. Alle Beteiligten kennen die Musik, und das reicht anscheinend aus.

Zwei Stunden vor Beginn des ausverkauften Konzerts gab es noch eine ärgerliche Überraschung: Wie auf einem Regalbrett prangen zwar hoch oben im Saal ein paar Orgelpfeifen, doch das zugehörige Instrument fehlt. Beim Sonnenaufgang am Anfang des „Zarathustra“ hat die Orgel einen kurzen, prominenten Auftritt. Der Organist Friedemann Winklhofer probierte eine Truhenorgel aus – mit einem lächerlichen Ergebnis. Doch bis zur Pause wurde trotz abgeschalteter Lastenaufzüge noch ein elektronisches Instrument herbeigeschafft, das Gergiev und Winklhofer befriedigte.

Leises klingt am Besten

In der eineinhalbstündigen Anspielprobe ließ Gergiev die drei Werke des Programms einmal durchspielen. In seiner unnachahmlichen Gestik ließ er die Viertelnoten wie am Luftklavier klappern. Er gab das Tempo vor, überließ den Feinschliff aber der Eigeninitiative seiner Musiker. Er sprach wenig und konzentrierte sich auf einen entscheidenden Hinweis: „Spielen Sie den Anfang des Finales in Dvoráks Konzert wirklich im Pianissimo. Denn ich spüre: Leise Stellen werden in diesem Saal die besten sein.“

Draußen wartete schon das Publikum. Dann regte sich 25 Minuten vor Konzertbeginn leiser Unmut unter den Musikern. Gergiev brach die Probe kurzerhand ab.

Mit seiner Vorhersage behielt er recht: Laute Stellen haben in der neuen Philharmonie zwar Kraft und Körper, aber Leises klingt noch besser. Im Konzert wucherte das Orchester mit seinem größten Pfund: den herausragenden Bläser-Solisten wie der famose Jörg Brückner (Horn), Marie-Luise Modersohn (Oboe), Alexandra Gruber (Klarinette) und Hermann van Koglenberg (Flöte). Und die Klangtradition des Orchesters tröstete über ungeformte Stellen im Tanzlied des „Zarathustra“ hinweg.

Den Parisern gefiel es trotzdem: Gergiev ist hier häufiger Gast. Ein paar Besucher klatschten bereits in die Generalpause im Zentrum des „Zarathustra“ hinein. Aber langsam wird es Zeit, dass der neue Chef beweist, dass er nicht nur ein hinreißender Retter in der Not und Meister des spontanen Improvisierens ist.

Mitte September werden wir alle schlauer sein: Dann dirigiert er sein Antrittskonzert als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker.

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