Kirill Petrenko dirigiert Mahler im Nationaltheater
Es gibt gute und sehr gute Dirigenten. Und es gibt noch jene Handvoll, bei denen sich die vor ihnen sitzenden Musiker selbst übertreffen. Im glücklichen München arbeiten sogar zwei dieser raren Exemplare: Mariss Jansons beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Kirill Petrenko in der Staatsoper.
Bei der ersten Musikalischen Akademie brachte der Generalmusikdirektor im Nationaltheater die schwarzen Punkte und Striche auf dem Notenpapier exemplarisch zum Sprechen. Petrenko gestaltete jeden Takt und jede Phrase der Symphonie Nr. 6 von Gustav Mahler, ohne seinen Musikern den Atem zu rauben. Sein Dirigieren ist eine hinreißende Verbindung aus scharfer Kontrolle und erlaubter Freiheit, die gerade dieser theatralischen Musik gut bekommt. Bei diesem Temperamentsmusiker und unerbittlichen Rhythmiker marschierte der erste Satz unweigerlich auf das Katastrophen-Finale zu.
Gesteigert wurde dieser Sog durch die unübliche, aber von Mahler erwogene Reihenfolge der Mittelsätze: Wenn das Andante moderato an zweiter Stelle steht, wird das Scherzo zum dämonischen Vorspiel des Finales. Der Eindruck verstärkte sich, weil der Dirigent den dritten Satz ohne jede Hast in seiner Bizarrerie voll auskostete.
Ob etwas klappt, weiß man erst, wenn man’s ausprobiert
Im Finale blieben selbst im heftigsten Getümmel alle Details hörbar. Es war laut, aber nie lärmend. Das Staatsorchester verfügte über unerschöpfliche Reserven für die allerletzte, trotzige Riesensteigerung. Der gegen Ende des Satzes von mehreren Becken auszuführende Schlag blendete wie ein gleißender Blitz. Und dass der von Mahler wieder gestrichene dritte Hammerschlag ein wildes Fortissimo der leisen Celesta hervortreten lässt, hört man sonst auch kaum.
Das Andante moderato dirigieren andere gelassener, aber es ist eben kein überlangsames Adagio. Und die Herdenglocken hätten auch etwas ferner aufgestellt werden dürfen.
Wer aber, wie Petrenko, in jedem Takt mit seinen Musikern etwas riskiert, darf auch einmal daneben langen. Wieso er Olga Borodina für eine Mahler-Interpretin hält, teilte sich leider nicht mit. Die Mezzosopranistin sang die Rückert-Lieder mit tausend zufälligen Farben und Registerbrüchen. Nur eines gelang ihr nicht: eine klare Linie. Mahler ist manieriert genug, man muss seine Musik nicht mit falschem russischem „Carmen“-Gegurre garnieren.
Petrenko eilte durch „Um Mitternacht“, als wollte er es rasch hinter sich bringen. Aber so ist es nun mal – nicht nur in der Kunst: Ob was funktioniert, wird erst klar, wenn man es versucht.