Kent Nagano dirigiert Mahlers Symphonie Nr. 2
Von fern schmettern ferne Trompeten. Im Orchester sanftes Vogelgezwitscher wie vor einem Gewitter. Es herrscht Ruhe vor dem Weltuntergang. Nach christlicher Lehre müsste nun der Weltenrichter erscheinen. Den unterschlägt Gustav Mahler in seiner Symphonie Nr. 2, um sofort eine allgemeine pantheistische Erlösung und Auferstehung zu verkünden.
Es ist der entscheidende Moment, auf den die Komposition zuläuft, wenn der seit über einer Stunde auf dem Podium wartenden Chor zum ersten Mal einsetzt. „Misterioso“ hat Mahler die Stelle überschrieben, in dreifachem Pianissimo erklingen die Worte „Aufersteh’n, ja aufersteh’n“.
Kalt lassend
Die Audi-Jugendchorakademie sang das frisch heraus wie eine deutsche Liedertafel, vielleicht nicht schon im Mezzoforte, aber sicher nicht im dreifachen Pianissimo und auf jeden Fall völlig frei von jedem Misterioso. Dass die Stelle verdorben wurde, wäre zu hart gesagt. Aber der Chor-Einsatz, von dem in jeder Aufführung eine magische Wirkung ausgeht, ließ so völlig kalt.
Das war verwunderlich, angesichts des guten Rufs, den dieser von Martin Steidler betreute Projekt-Chor mit 80 Sängerinnen und Sängern im Alter von 16 bis 27 Jahren genießt. Aber seine Stärke ist die kraftvolle kühle Frische, nicht der warm-mürb hingehauchte Klang, auf den es hier ankäme.
Es enttäuschte umso mehr, weil sich Kent Nagano und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin bis zu diesem Augenblick um mehr undifferenzierte Lautstärkegrade bemüht hatte, als das in der Mehrzahl der meisten Mahler-Aufführungen üblich ist.
Ein Mehr an Reife
Dem ehemaligen Chef des Deutschen Symphonie-Orchesters war vom ersten sehr körperlich gespielten Tremolo und der heftigen Geste der tiefen Streicher an eine herausragende und in ihrer Genauigkeit faszinerende Aufführung gelungen. Nagano galt schon immer als exzellenter Mahler-Dirigent. Seit einiger Zeit kommt ein Moment von Reife hinzu, der Kontrolle mit einer hohen, aber nicht überbordenen Emotionalität verbindet.
Der jetzige Hamburgische Generalmusikdirektor steigerte die Wiederholungen des Hauptthemas im ersten Satz zu tragischer Größe. Nagano brachte den ganzen Kosmos, die in dieser Symphonie steckt, mit dem exzellenten Orchester zum Klingen. Er entdeckte etwa in der Cello-Melodie des Andante moderato eine warme Herzlichkeit und hatte die ideale Solistin für das „Urlicht“: keine Mezzosopranistin, sondern die opulent und klar singende Okka von der Damerau.
Nagano steigerte den hymnischen Schluss der Symphonie mit Bedacht. Aber der anfängliche Zauber war ab dem Choreinsatz verflogen. Das Orchesternachspiel steuerte allzu geradeheraus auf ein klanglich nicht völlig bewältigtes Riesenfortissimo mit Orgel und Extra-Blech zu. Es hätte noch ein Atemholen und eine sanfte Tempo-Rückung vertragen. Nach der grandiosen ersten Stunde wirklich schade.
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