Kent Nagano dirigiert im Nationaltheater
Jäh auffahrende Gesten der Streicher stoßen auf kurze Stationen, die auf interessanten Harmonien wie reflektierend verweilen. Es ergibt sich ein Wechsel gleichsam von "Vorwärts" und "Warte kurz" - ein Muster, die Idee des Stückes? Nein, andere Dinge passieren, die imposanten Bässe des Bayrischen Staatsorchesters bohren sich in den Boden, gestopfte Trompeten schmettern Militärsignale, die Streicher versammeln sich zu einem leisen Misterioso. Auch die Charaktere wechseln ständig, betont durch das reiche Schlagwerk: Eine sich bedrohlich andeutende Kulmination wird durch im Schlagwerk durch das Flexaton mit einem lustigen "Boing" aufgelöst, ein aufflammendes Barock-Zitat wird durch Ruten auf Trommeln verdrängt, nach einem schönen Tuba-Solo blitzt ein Walzer auf und ist wieder verschwunden, als man ihn gerade erst bemerkt hat.
Kurzum: Unsuk Chin macht in ihrem Stück "Operascope", einem Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper, einen riesigen Raum auf, nicht zuletzt auch durch die üppige Orchesterbesetzung mit dreifachem Holz, sechs Hörnern und gleich zwei Vibraphonen. Als Hörer kann man sich denken, dass das ständige Umschlagen von Dramatik in Groteske, von Lyrik in Tanz, durchsetzt von Stilzitaten, das ist, was der Titel beschreibt: laut dem englischen "scope" den Umfang, den Ausdrucksradius, den die Oper als Kunstform zur Verfügung hat. Tatsächlich habe die Oper als "Kraftwerk der Gefühle" beim "Schreiben dieses Werks eine Rolle" gespielt, so wird Unsuk Chin im Programmheft zitiert.
Diese Fülle an Emotionen ist aber auch ein Problem des kurzweiligen Werkes: Es werden so viele Motive vorgestellt, dass man nach dieser Exposition eine gewisse Durchführung erwartet. Als diese beginnen müsste, ist "Operascope" aber schon an sein Ende gelangt. Es ist schlichtweg zu kurz geraten. Vielleicht könnte Unsuk Chin noch mindestens einen zweiten Satz nachschicken, in dem sie auch das Handlungspotential exploriert, das in der Kunstform Oper steckt.
Kent Nagano hatte bereits 2007 in München die Oper "Alice in Wonderland" der südkoreanisch-deutschen Komponistin uraufgeführt und leitet die Premiere des neuen Werks mit jener Präzision, die als sein Markenzeichen gelten kann. Sie kommt auch der Symphonie Nr. 6 von Ludwig van Beethoven zugute: Man merkt nicht, dass das Bayerische Staatsorchester sie das letzte Mal 2009 - ebenfalls unter Nagano - gespielt hat, so hell und transparent klingt das Tutti, so feingliedrig artikulieren die Holzbläser ihre Soli.
Während Nagano die "Pastorale" in lebendiger Bewegung hält, nimmt er sich für das Idyll "Im Sommerwind" des frühen Anton Webern viel Zeit und erzeugt mit den Streichern ein Pianissimo, das, nach dem Wunsch des Komponisten, "bis zu gänzlicher Unhörbarkeit" verlischt.