Jaroussky singt "Forgotten Arias"

Eine Stunde lang ist eher kalte Musik des mittleren 18. Jahrhunderts erklungen. Dann beginnt plötzlich ein Stück, das "kalt durch die Adern fließendes Blut" darstellt: mit einem starr voranschreitenden, eisigem Rhythmus, über dem sich eine aufregende, verschlungene Kantilene entfaltet, die Philippe Jaroussky in der nicht völlig ausverkauften Isarphilharmonie eindringlich gestaltet.
Die Arie "Gelido in ogni vena" stammt von Giovanni Battista Ferrandini - ein Name, der höchstens Kennern geläufig sein dürfte. Auch wenn diese Arie aus einem 1747 für den Dresdner Hof zusammengestelten Manuskript stammt, gehört der Italiener doch vor allem zur Münchner Musikgeschichte: Ferrandini stand als Kammermusiker in kurfürstlichen Diensten und schrieb die Oper "Catone in Utica", mit der 1753 das Cuvilliéstheater eröffnet wurde. Und als die Mozarts 1771 Italien bereisten, ehrten sie den heute vergessenen, aber zu seinen Lebzeiten angesehenen Komponisten mit einem Besuch.
Wer diese vor einigen Jahren wieder im Cuvilliéstheater aufgeführte und aus heutiger Sicht eher langweilige Abfolge aus Bravourarien kennt, hätte von Ferrandini kaum eine so aufregende, geradezu unvergessliche - weil emotional ansprechende - Arie erwartet, die aus einer in Dresden verwahrten Sammlung stammt. Ohne Übertreibung darf man sagen: "Gelido in ogni vena" ist so prägnant wie der durch Klaus Nomi populär gewordenen "Cold Song" aus Henry Purcells "King Arthur" oder der "Winter" von Antonio Vivaldi, der ebenfalls auf eine Vertonung dieses Arientexts von Pietro Metastasio zurückgeht. Wobei Ferrandini durchaus zuzutrauen ist, dass er diese Werke kannte und zum Vorbild nahm.
Jaroussky hat diese Arie bei Recherchen für seine neue CD "Forgotten Arias" entdeckt, mit deren Programm er derzeit durch Europa reist. Der Rest ist - wie die meiste Musik der Epoche zwischen Händel und dem frühen Mozart - leider nicht ganz so faszinierend. Denn die Musik von Johann Adolf Hasse ist so wenig individuell wie die von Tommaso Traetta, Michelangelo Valentini oder Johann Christian Bach. Mal ist sie ein wenig getragen, mal ist es hochdramatische Koloraturenmusik, die der französische Countertenor sehr brillant singt und ausziert, auch wenn die Stimme nicht mehr ganz so silbrig klingt wie noch vor wenigen Jahren. Und auch über seinen gurrenden Sprechgesang in tiefer Lage kann man geteilter Meinung sein.
Das französische Originalklangensemble Le Concert de la Loge begleitete den Solisten unter Julien Chauvin straff und kompetent. Aus der üblichen Ouvertüren-Beikost stach nur ein Stück von Leonardo Leo heraus, das mit düsterer Kontrapunktik deutlich machte, dass "Catone in Utica" im Unterschied zu den meisten Opern des mittleren 18. Jahrhunderts böse endet.
Als Zugabe sang Jaroussky noch "Che faro senza Euridice" aus Glucks "Orfeo". Die Arie stammt aus der gleichen Epoche wie die übrige Musik des Abends. Sie setzt auf Schlichtheit, eindringliche Melodik und Unverwechselbarkeit und formuliert eine praktische Kritik am manierierten Stil der Werke des übrigen Abends. Gluck setzte sich erst auf lange Sicht durch, die tot gesagte Opera seria lebte munter weiter. Ferrandinis "Gelido in ogni vena" beweist aber: Diese Komponisten hätten auch anders gekonnt, wenn der Zeitgeschmack es von ihnen verlangt hätte.
Philippe Jarousskys CD "Forgotten Arias" bei Erato