James Gaffigan dirigiert in München: Als Einspringer viel zu schade

München - Im Gedränge in der Isarphilharmonie aufgeschnappt: "Die müssen froh sein, dass sie so einen als Ersatz bekommen haben." Der erfahrene Musikhörer hat recht. "Die" sind die Verantwortlichen des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, die damit klar kommen mussten, dass der für mehrere Konzerte eingeplante Zubin Mehta wegen Erschöpfung absagte. "So einer" ist der Dirigent James Gaffigan, Jahrgang 1979, gebürtiger New Yorker, ab nächster Spielzeit Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin.
Mehta-Ersatz Gaffigan setzt mit BR-Symphonikern vielschichtige Deutungen um
Allein das kurzfristige Einspringen für den 86-jährigen Kollegen ist hier eine Nachricht wert, weil der Jüngere vier ausgewachsene Werke übernahm, die allesamt keine Selbstläufer sind.
Praktisch ohne Vorbereitungszeit beweist Gaffigan, dass er - was nicht jedem seiner Generationskolleginnen und -kollegen so ohne Weiteres zuzutrauen wäre - ganz eigene Vorstellungen für Musik der Wiener Klassik bis hin zur Moderne hat. Und es sind vielschichtige Deutungen, die er mit dem durchgehend hochmotivierten BR-Symphonieorchester verwirklicht.
Froh könnte man schon allein darüber sein, dass Gaffigan ohne Ideologie an Joseph Haydn herangeht. In seiner späten Symphonie B-Dur Hob. 105 "Concertante" ist das Orchester als Gegenpart zum kleinen Concertino-Ensemble zwar wichtig. Dass aber keine Mätzchen von den hochvirtuosen Partien der Solisten ablenken sollten, sollte man auch erkennen, ohne sich auf historische Informiertheit zu berufen.
Das ungleiche Ensemble mutet wie ein eben neu erfundenes Instrument an
Die begleiterische Dezenz ihrer Kollegen lässt die vier BR-Symphoniker blitzen wie Edelsteine: Dem angriffslustigen Fagott von Mor Biron antworten die weitgespannten Kantilenen der Oboe von Ramón Ortega Quero, während Giorgi Kharadze in grausamer Höhe ein veritables Violoncello-Konzert abzieht.
Zusammengehalten werden die fantastischen Vier vom Geiger Radoslaw Szulc, und sie stimmen gerade auch in den leisen Passagen so mikroskopisch genau zusammen, dass das ungleiche Ensemble anmutet wie ein eben neu erfundenes Instrument.
Seong-Jin Cho macht mit seinem Fortissimo-Furor aus einem Steinway gefühlt zwei
Ganz anders liegen die Herausforderungen im Klavierkonzert Nr. 3 d-moll von Sergej Rachmaninow, zumal Seong-Jin Cho hier einmal alle pianistische Unberührbarkeit fahren lässt. Glücklicherweise sind Orchester und Dirigent auf die unvorhersehbare Wendung gefasst.
Eine Zeitlang nämlich scheint sich Cho an der Beiläufigkeit zu orientieren, mit der der Komponist selbst seine Werke spielte. Doch dann steigert er sich - Überraschung! - in einen Fortissimo-Furor hinein, der aus einem Steinway gefühlt zwei macht und das Publikum mit offenstehenden Mündern zurücklässt.
Wer an zwei aufeinanderfolgenden Tagen sowohl der Symphonik von Richard Strauss gerecht wird als auch der ganz anders gearteten Gustav Mahlers, kann schon mal kein ganz schlechter Musiker sein. Tatsächlich hat James Gaffigan, seit langem in München zu Gast, eine beachtliche Entwicklung durchlaufen. Immer schon auf Genauigkeit bedacht, führt er das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks heute mit einer Umsicht, die an Mariss Jansons gemahnt.
Wie bei Haydn vermeidet Gaffigan auch bei Mahler stilistische Ideologien
Die Tondichtung "Also sprach Zarathustra" von Strauss war schon lange nicht mehr derart ausgefeilt zu hören; wunderbar bildhaft etwa, wie nach den spannungsgeladenen Fanfaren die scharfgestellten Orchesterbässe im Bühnenboden versickern: Je ausdrucksvoller die Stille, desto blendender dann, nach sorgfältig aufgebautem Choral, der Glanz der hohen Violinen.
Wie bei Haydn vermeidet Gaffigan auch bei Mahler stilistische Ideologien. Die Symphonie Nr. 5 kommt ohne Zerissenheits-Klischees aus. Stattdessen sind himmelhoch jauchzender Überschwang wie allgegenwärtige Störfeuer in eine überaus reiche Totale integriert, die gerade auch aus der orchestralen Mitte schöpft. Da wird ein Bravo für das exzellent ausklingende Orchester fällig, ein Sonderapplaus für den verwegenen Hornsolisten Carsten Carey Duffin, und ein "Chapeau!" für die vielschichtige Interpretation.
James Gaffigan sollte das Orchester in Zukunft viel stärker an sich binden. Als Einspringer ist er zu schade.
Die Konzerte kann man auf www.br-klassik.de anhören.