Igor Levit spielt Variationen von Bach, Beethoven und Rzewski
Die Klavierplatte des Jahres: Igor Levit spielt Variations-Zyklen von Bach, Beethoven und Rzewski
Um diese drei CDs gibt es einen ziemlichen Medien-Hype. Vor allem eine große Frankfurter Zeitung trägt seit langem großflächig dazu bei, den Ruhm des 1987 im russischen Nischni Nowgorod geborenen und seit vielen Jahren in Deutschland lebenden Pianisten zu mehren. Da ist es einem fast peinlich, in die allgemeinen Lobeshymnen einzustimmen.
Aber man kommt nicht dran vorbei. Es reicht, die CDs einzulegen und seine Ohren aufzusperren. Bei aller Skepsis gegenüber den um Levit veranstalteten Rummel drängen sich Superlative auf: Diese Aufnahme der drei großen Variationszyklen von Bach, Beethoven und Rzewski ist die Klavierplatte des Jahres. Und dies nicht nur, weil die kühne Zusammenstellung von Klassik und Moderne nach über drei Stunden Musik und 99 Variationen einleuchtet. Sondern vor allem, weil der Pianist jede der vielen Noten persönlich und eigenständig auslegt.
Beethovens Diabelli-Variationen spielt Levit ausgesprochen frisch und mit zugespitzten Tempi. Dieser Zyklus gehört zu jenen Werken, die mehr bewundert als geliebt werden. Doch der Eindruck des Gewollt-Akademischen, der sich bei Variationen im Allgemeinen und bei diesem als ziemlich trocken verschrienen Werk im Besonderen einzustellen pflegt, bleibt aus. Levit versteht die „33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli“ als eine Folge von Charakterstücken, die Witz im Sinne von Intellektualität und Humor vereinen.
Auch Bachs Goldberg-Variationen erscheinen in Levits Sicht mehr als Sammlung von Miniaturen. Mit einem straffen, aber nie überhetzten Tempo und einer eher scharfen Artikulation nähert Levit den Klang eines modernen Konzertflügels dem Cembalo an. In den ruhigeren Passagen überzeugt er mit einem sehr geschmackvollen Legato – eine sehr gelungene Anverwandlung von Einsichten historischer Aufführungspraxis an den Klang eines modernen Flügels.
Linker Humanismus bricht das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts
Ob Frederic Rzewskis 36 Variationen über Sergio Ortegas chilenisches Revolutionslied „The People United Will Never Be Defeated!“ aus dem Jahr 1975 wirklich auf der Höhe von Bach und Beethoven stehen, darüber lässt sich streiten. Kenner sollen wissen, dass Jazzer die gleiche Melodie erheblich avantgardistischer variiert haben. Linkes Sentiment wird vielleicht allzu billig bedient. Trotzdem spricht einen das humane Ethos unmittelbar an.
Sei’s drum: Rzweskis einstündiges Variationswerk bemüht die eine oder andere Avantgarde-Spieltechnik. Der Pianist darf improvisieren und singen. Aber vor allem steht das Stück in der großen Tradition der Klavier-Virtuosität des 19. Jahrhunderts. Seine immense Schwierigkeit macht es vergleichsweise leicht goutierbar, denn vor lauter Staunen über das Können des Pianisten vergisst man bisweilen, was er eigentlich spielt.
Ein bisschen Jazz, Folk, Pop und Hanns Eisler sorgen für Würze. Und zuletzt kehrt das mitreißende Revolutionslied natürlich, wie es sich gehört, vollgriffig zurück.
Igor Levit: Bach, Beethoven, Rzewski, 3 CDs, Sony Classical