"Ich habe nur eine Frage: Warum seid ihr gekommen?"

Nur wenige "Arschlöcher" mit Handys: Fasziniert erlebt das Publikum im Gasteig die Improvisationskunst von Keith Jarrett
Dominik Petzold |
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Intellektualität, Sensibilität und größte Musikalität: Das alles macht Keith Jarrett zum großen Jazzer, der sein Publikum aber auch fordert.
dpa Intellektualität, Sensibilität und größte Musikalität: Das alles macht Keith Jarrett zum großen Jazzer, der sein Publikum aber auch fordert.

Nur wenige "Arschlöcher" mit Handys: Fasziniert erlebt das Publikum im Gasteig die Improvisationskunst von Keith Jarrett

MÜNCHEN Die Philharmonie hustet, röchelt, keucht. Gleich wird Keith Jarrett die Bühne betreten, also versuchen die Gäste noch hektisch, das echte oder eingebildete Kratzen aus ihren Kehlen zu verscheuchen. Denn man weiß ja, wie das enden kann: Ein Räusperer an der falschen Stelle, und Keith Jarrett hört auf zu spielen und geht zur Publikumsbelehrung über.

Im Saal klingt es einige Sekunden lang wie im Sanatorium für Lungenkranke. Dann wird den Zuschauern die Absurdität bewusst. Statt Husten: Lachen. Doch dass sie nicht ganz falsch lagen, wird klar, als der Veranstalter auf die Bühne tritt. Keith Jarrett habe ihn gebeten, sein Anliegen vorzutragen, sagt er freundlich. Also werde er noch mal das Blatt vorlesen, das ohnehin auf jedem Platz lag – auf Deutsch und Englisch, denn viele Gäste seien aus dem Ausland gekommen: Das Konzert werde komplett improvisiert und aufgenommen, steht geschrieben, Fotos und Videoaufnahmen seien verboten, Handys, Kameras und elektronische Geräte sollten ausgeschaltet und weggepackt werden. Und: „Bitte vermeiden Sie Huster und andere störende Geräusche – besonders während der ruhigeren musikalischen Momente.“

Nun, der Mensch mag ja einen freien Willen haben, aber beim Husten findet der manchmal seine Grenzen. Die schöne, elegante Dame auf dem Nebenplatz nimmt das Bonbon für den Fall der Fälle jedenfalls schon präventiv gleichmal dankend an. Dann setzt sich Jarrett an den Flügel. Er spielt ein paar Arpeggien und geht schnell zu tonal völlig freien Läufen über. Die linke und die rechte Hand wirbeln gleichberechtigt über die Tasten – ein wilder Wahnsinn. Dann legt sich Jarrett auf eine so komplexe wie funkige Bassfigur fest und beginnt zu grooven. Er springt auf und spielt in der Hocke, das Gesicht ebenso gekrümmt wie der Körper. Die Bassfigur groovt weiter, Jarrett beginnt laut zu summen, und beim ersten Schlag des Taktes stampft er manchmal mit dem rechten Bein auf den Boden.

Darf man klatschen?

Plötzlich endet die Improvisation mit einem abrupten Basston – und die Philharmonie ist mucksmäuschenstill. Sekundenlang. Das Publikum war bis dahin vollkommen ruhig, machte kein einziges Geräusch – und ist jetzt ratlos: Darf geklatscht werden? Endlich hilft Jarrett: „Sie können applaudieren oder nicht“, sagt er und bricht damit das Eis. Das Publikum jubelt, halb begeistert von der Musik, halb erleichtert. Mit der völligen Stille ist’s jetzt aber vorbei. Das Publikum ist zwar so leise, wie sonst nie zu erleben, aber hin und wieder muss jemand husten. Anarchische Naturelle wagen sogar, sich während der Stücke mit leichten Geräuschen auf ihren Stühlen zu bewegen. Jarrett aber stört sich nicht daran und macht mit seiner Musik weiter. Und die ist unfassbar.

Wohin sie ihn trägt, weiß er selbst nicht, wenn er ein neues Stück beginnt. Deshalb ist das auch kein Konzert im üblichen Sinne: Das Publikum darf hier einem Genie zusehen, wie es seine Kunst erfindet. Und die kennt keine Grenzen, auch keine selbst auferlegten: Manche Stücke sind fast reiner, klassischer Pop, mit schlichten, bekannten Akkordfolgen, die Jarrett nicht mit komplexen Erweiterungen zerlegt. Dann wieder spielt er lyrischen Jazz, bei dem jede Wendung unvorhersehbar ist. Und selbstredend zaubert er magische Klänge aus dem Steinway.

Mit solchen endet auch das erste Stück nach der Pause. Dann schaut er ratlos. „Somebody else play?“, fragt er. Mag jemand anders spielen? Jarrett geht zum Mikrophon, um sein Problem zu erklären: Das habe sich gerade wie das Ende eines Konzerts angefühlt, sagt er, da könne er nicht dreißig Sekunden später einfach weitermachen. Also erzählt er jetzt vom Wagnis des freien Improvisierens.

Blues hilft immer

Man müsse dafür schon völlig verrückt sein, sagt er, so etwas könne zum Herzinfarkt führen, und auch wenn er schon hunderte solcher Konzerte gegeben habe – es werde nur immer schlimmer und schlimmer. Doch wie sich der menschliche Körper ständig erneuere, so erneuere er eben auch seine Musik. Dann setzt er sich wieder ans Klavier, sammelt sich – und sagt: Das alles festzustellen habe jetzt leider auch nicht geholfen.

Aber er hat noch ein Ass im Ärmel, um die Kreativität wieder ins Laufen zu bringen. „The blues is always helpful“, sagt er. Blues hilft immer! Also hämmert er einen erweiterten 12-Takter in die Tasten, so aberwitzig virtuos, dass das Publikum danach halb durchdreht. Wenig später fühlt sich dann ein Stück für Jarrett wieder nach Konzertende an, also verlässt er kurz die Bühne, kehrt aber wie versprochen zurück und macht mit einer Free Jazz-Improvisation weiter.

Als Zugabe spielt er zwei wunderschöne Balladen, und er verlässt mehrmals unter stehenden Ovationen die Bühne. Ganz zum Schluss improvisiert er über „Somewhere Over The Rainbow“ – das ist purer Zauber. Das enthusiastische Publikum holt ihn noch mal auf die Bühne, es ist jetzt so laut, wie es vorher leise war. Jarrett verbeugt sich und wirkt zufrieden. Und auf dem letzten Weg von der Bühne geht er noch mal kurz zum Mikrophon.

„Keine Sorge“, sagt er, und das Publikum unterbricht den euphorischen Jubel. „Ich werde nicht über die Arschlöcher reden, die ihre Handys auf mich halten.“ Manche Zuschauer lachen, aber er meint’s ernst. „Ich werde nicht über die Arschlöcher reden, ich habe nur eine Frage an sie: Wieso seid Ihr gekommen?“

Er bedankt sich bei allen anderen Zuschauern und verlässt den Saal. Und die magische Wirkung seiner Musik ist da auch schon weg.

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