Hänsel und Gretel im Gärtnerplatztheater: Überwältigende Sehnsucht
München - Aus seinem Herzen macht Staatsintendant Josef E. Köpplinger keine Mördergrube. Die pandemiebedingten Schließungen der Kultureinrichtungen findet er "systempolitisch falsch" und kann es kaum erwarten, sein Gärtnerplatztheater wieder für das Publikum zu öffnen.
So gesehen ist es ein positives Zeichen, dass die hauseigene Website erst einmal überlastet war, als der Live-Stream der Spielzeitpremiere begann: Offenbar sehnt sich das Publikum so sehr nach dem Gärtnerplatztheater, dass viele - sogar kurzzeitig zu viele - die Märchenoper "Hänsel und Gretel" von Engelbert Humperdinck wenigstens im Internet mitbekommen wollten.
Das Leben steckt hier im Detail
So lange diese Sehnsucht die Leute nach überstandenem Lockdown tatsächlich wieder in die Säle lockt, sind solche Übertragungen durchaus ein Weg, in Kontakt zu bleiben. Ein Ersatz für einen Abend im Theater sind sie nicht. Und die Sänger hätten tosenden Applaus verdient, wie sie diese bald ein halbes Jahrhundert alte Inszenierung mit Leben füllen.
Es sind die Details, in denen dieses Leben steckt, und die sich auch über den Bildschirm mitteilen. Anna-Katharina Tonauer verströmt als Hänsel das samtige Timbre ihres leicht ansprechenden Mezzos, und sie spielt ihn übermütig: Beim berühmten Abendsegen muss er gähnen. Zur Andacht ermahnt wird er von Schwester Gretel, die Csilla Csövari glockenrein, aber nicht weniger einschmeichelnd singt, was besonders den klanglich fein abgestimmten Duettpassagen gut tut.
Psychologische Tiefendimension unter bunter Märchenkulisse
Alexandra Reinprecht als Mutter erwehrt sich mit deutlich intensiverem Sopran der Annäherungsversuche ihres Mannes Mathias Hausmann, der ja am Gärtnerplatz auch einen virilen Don Giovanni gab. Zwischen Mutter und Vater spielt sich also ein untergründig sexuelles Geschehen ab, das keineswegs harmlos ist und unter der bunten Märchenkulisse eine psychologische Tiefendimension aufdeckt. Als Knusperhexe bietet Anna Agathonos nicht nur pralles Kinder-Schrecktheater, sondern erfüllt auch alle anspruchsvollen Töne mit Sinn.
Da auch der Dirigent Anthony Bramall im Graben viel aufgeweckter dirigiert als noch bei der Wiederaufnahme von vor zwei Jahren, fällt es nicht störend auf, dass das Orchester des Gärtnerplatztheaters jetzt in reduzierter Besetzung spielt. Im Gegenteil, selbst über den Umweg der technischen Übertragung bildet sich die kunstvolle Instrumentation Engelbert Humperdincks plastisch ab. Wenn im verwaisten Gärtnerplatztheater so gesungen und gespielt wird, können wir alle es kaum erwarten, dort bald wieder live zu Gast zu sein.
Als Video abrufbar auf www.gaertnerplatztheater.de
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