Gergiev dirigiert Bruckner und Zimmermann
Die Philharmoniker starten mit Werken von Bernd Alois Zimmermann und Anton Bruckner in ihre Jubiläums-Saison
Sekundenlang ist es still in der Philharmonie. Die letzten Hornklänge sind schon verweht, doch Valery Gergiev hält einige Atemzüge weiter die Spannung.
Es lohnt sich, in der Stille dem dritten Satz von Anton Bruckners 9. Symphonie noch etwas hinterherzuspüren, als ließe sich fühlen, wie sich das Schaffen das Komponisten in die Nacht ausgeblendet hat. Bruckners letztes Werk verklingt ganz sanft. Es ist überraschend, dass der Applaus nach diesem eindringlichen Ende eines intensiven Abends nur zögerlich einsetzt.
Begeistert war das Münchner Publikum nicht vom Saisonauftakt der Münchner Philharmoniker im Gasteig. In die Jubiläumssaison anlässlich des 125. Geburtstags der Münchner Philharmoniker ging es aber auch mit schwerer Kost: zwei letzten Werken, die beide erst nach dem Tod der Komponisten zur Uraufführung gekommen waren.
Vanitas wohin man sah und hörte
Bruckners Neunte und Bernd Alois Zimmermanns „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“ waren nach einem Tag Münchner Herbstsonne ein abendliches Allerheiligenprogramm, dessen Effekt noch gesteigert wurde durch die kulissenhaften Stände eines medizinischen Kongresses im Foyer. Vanitas wohin man sah und hörte.
Zimmermanns Werk nennt sich im Untertitel „Ekklesiatische Aktion“, funktioniert an dem Abend aber auch ohne Kirchenraum oder szenische Aktion als reines Hörstück. Bibeltexte aus dem alttestamentarischen Buch Kohelet Ecclesiastes sind in dem Stück mit Zitaten aus Fjodor Dostojewskis Novelle „Der Großinquisitor“ arrangiert. Aus den Texten spricht reine Verzweiflung – am Dasein, an der Menschheit, am Lebenssinn. Zimmermann, er wäre dieses Jahr 100 Jahre alt geworden, war bereits schwer an Depression erkrankt, als er dieses Auftragswerk komponierte.
Seine innere Dunkelheit ist hörbar, in der Textkollage und ihrer musikalischen Inszenierung, die Akzente setzt, illustriert und doch fragmentarisch ist, sich einer klanglichen Ganzheit oder gar vermeintlichen Schönheit verweigert, wo ohnehin alles schon zerstört scheint.
Den „Großinquisitor“-Text gibt Schauspieler Joseph Bierbichler als bayerischer Grantler, zornig und nicht immer ganz textklar. Ihm zur Seite stehen mit den Bibeltexten Schauspielkollege Michael Rotschopf als zweiter Sprecher und Bariton Georg Nigl. Dessen gesungenes Klagen und am Ende elendes Schluchzen sind berührend, tönen auch als Leiden des geschundenen Menschen über die Stellen kompletten Klangchaos’ hinweg.
Versöhnung mit Bach
„Weh dem, der allein ist“, lautet die letzte, mehrmals wiederholte Textzeile, aber das wirklich letzte Wort haben die Blechbläser mit einem überraschend harmonischen Zitat aus der Bach-Kantate Nr. 60: „Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus“. Der Komponist nahm sich fünf Tage nach Vollendung der Partitur das Leben.
Zimmermann hat sein letztes Stück wie eine Zentrifuge angelegt, bei der die Dekonstruktion von Ästhetik und Erzählung um so stärker wird, je mehr das Werk an Fahrt aufnimmt. In der Mitte steht an diesem Abend Valery Gergiev und hält dennoch alles zusammen. Der Chefdirigent hat sein Podest aufgegeben und steht nun auf der Bühne. Mit der Idee überrascht er seit Anfang des Jahres Musiker und Publikum und mit dem Effekt vielleicht auch sich selbst. Er scheint dadurch zugleich befreit und näher an seinen Musikern, ist beweglicher und gibt deutlich mehr und präzisere Einsätze als bei manch anderen seiner Münchner Konzerte. Mitten unter den Philharmonikern wirkt er an dem Abend präsent und engagiert dirigierend. Er motiviert das Orchester zu Dynamik und Dramatik und achtet mehr als sonst auf Details, was sich auch bei der Bruckner-Symphonie auszahlt.
Ganzheit statt Zerrissenheit
Gerade der zweite Satz als Monument und Prüfstein der Bruckner-Interpretation gelingt als dramatisches, der Schicksalhaftigkeit sehr bewusstes und dennoch warmes, versöhnliches Spiegelbild zu Zimmermanns Verzweiflungsmusik. Beide Komponisten sahen das Ende kommen und wählten doch so unterschiedliche Abschiedsklänge. Wo Zimmermanns Musik sich quält und auflehnt, lässt Gergiev Bruckners Musik fließen und wählt ein flottes Tempo. Ganzheit anstatt Zerrissenheit.
„Dem lieben Gott geweiht“ habe Anton Bruckner dieses letzte Werk, das er vor seinem Tod nicht mehr fertigstellen konnte, so die mündliche Überlieferung. Der vierte Satz existiert nur als Entwurf und in Rekonstruktionen und kommt auch an diesem Abend, traditionell, nicht zur Aufführung. Hört man den dritten Satz der Symphonie als Bruckners musikalisch letztes Wort, so geht da einer mit Wehmut, aber er geht ohne Verzweiflung aus einem erfüllten Leben auf seinen lieben Gott zu. Auch hier vermeidet Gergiev eine überdramatische Interpretation und setzt auf ein tröstliches Klangbild. Sakral sind in dieser Bruckner-Vorstellung vor allem die Schweigesekunden am Ende des dritten Satzes.
Am Freitag dirigiert Valery Gergiev Bruckners 8. Symphonie in der Philharmonie im Gasteig. Vom 24. bis 26. September sind die Philharmoniker unter Gergiev mit Bruckner-Programmen in St. Florian zu hören