Gardiner rettet Berlioz und vergeigt Schubert

John Eliot Gardiner und die BR-Symphoniker mit Berlioz und Schubert im Herkulessaal
Robert Braunmüller |
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Hat Sir John vielleicht einen eineiigen, ihm verteufelt ähnlich sehenden Zwillingsbruder, der ihm gern einen Streich spielt? Das Konzert mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks legte diesen Schluss nahe. Denn es kann einfach nicht sein, dass der gleiche ältere Herr erst Berlioz geradezu exemplarisch dirigiert und nach der Pause Schubert mehr oder weniger ungeprobt an die Wand fährt.

Zuerst die Symphonie „Harold in Italien“ von Hector Berlioz. John Eliot Gardiner, der famose Bratscher Antoine Tamestit und das Orchester kosteten die klanglichen Extreme der Musik aus. Gleich im ersten Solo gibt es eine Stelle, die „wie ein Nichts“ erklingen soll: Der Solist, die beiden Klarinettisten und die Harfenistin nahmen den Klang tatsächlich bis zur Unhörbarkeit zurück.

Ein Flaneur

Tamestit wechselte hin und wieder seinen Platz auf dem Podium im Herkulessaal. Er wanderte durch das Orchester wie Harold durch Italien: manchmal als Akteur, öfter nur als Beobachter. Das Sensible wie das Schwärmerische dieser Musik kam prächtig heraus. In den dramatischen Stellen trumpfte das Blech knackig und trocken auf. So und nicht anders muss Berlioz klingen.

Auf diese ungemein ausgefeilte, detailgenaue und detaillierte Aufführung folgte eine herbe Enttäuschung. Sir John saß vermutlich gefesselt in der Garderobe, während sein Doppelgänger mit dem dirigentischen Bleifuß, aufgeregt blinkender Lichthupe und eingeschalteten Nebelscheinwerfern durch Schuberts Nr. 8 brauste, die Große Symphonie in C-Dur.

Ein Altherrenstreich?

Schon das einleitende Hornsolo war zu laut. Den ersten Rufen der Posaunen antworteten die Holzbläser wie in jeder Dutzendaufführung in voller Lautstärke, obwohl „piano“ vorgeschrieben ist. Im Andante con moto kam die eigentlich zaghafte Cellomelodie nach dem katastrophalen Zusammenbruch als sattes, schmalzige Forte – wie in der provinziellen Aufführung einer Symphonie von Tschaikowsky.

Beim Schlussakkord des Finales wünschte sich Franz Schubert ein leichtes Nachlassen der Lautstärke: Sein Wunsch wurde ebenso wenig respektiert wie die vorgeschriebenen Wiederholungen in den Ecksätzen. Das wie stets exzellente Orchester trifft kein Vorwurf: Der Dirigent muss solche Differenzierungen einfordern. Der echte Sir John ist das Haupt jener Schule, die mit dem Anspruch auf genaueste Lektüre des Notentexts angetreten ist. Es kann nur sein missratener Bruder gewesen sein, der hemdsärmelig vom Blatt spielen ließ, dass die Fetzen flogen. Ein Altherrenstreich.

 

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