Gander-Uraufführung in der Münchner Muffathalle: Soundtrack für unsere Gegenwart
München - In Normalzeiten würde diese Uraufführung wohl nicht eine derart starke Wirkung entfalten.
Die Zeiten sind aber nicht normal. In der Ukraine tobt ein Krieg, der die jahrzehntewährende Friedensordnung in Europa auf eine harte Probe stellt. Es entscheiden sich hier Schicksale in mannigfacher Weise. Umso erschreckend aktueller erscheinen die "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" von Bernhard Gander, mit der jetzt in der Muffathalle die diesjährige "Münchener Biennale für neues Musiktheater" eröffnete.
Es geht um Krieg und Verfolgung, Flucht und Asyl
Für dieses Projekt, eine Koproduktion mit der Deutschen Oper in Berlin und dem Ensemble Modern, hat der Komponist aus Österreich ein Libretto des ukrainischen Autors Serhij Zhadan vertont. In der deutschen Übersetzung von Claudia Dathe des ukrainischen Librettos wirken aber Passagen sprachlich wenig musikalisch. Es geht um Krieg und Verfolgung, Flucht und Asyl, den Verlust von Heimat und Besitz, die Hoffnung auf Integration und Neuanfang und ihre jähe Zerstörung. Die Arbeit an diesem Projekt startete vor Beginn des Kriegs.
Gander-Klänge: Aus dem Rohen werden Klänge der Verrohung
In seiner Musik macht Gander wiederum das, was man von ihm kennt. Seine bisweilen elektronisch verfremdeten, vielfach rockmusikalisch wirkenden Klangarbeiten wiederholen quasi-minimalistisch bestimmte rhythmisch-metrische, harmonisch-melodische Muster. Das kann grobschlächtig wirken, roh und schroff, eckig und kantig.
Jetzt aber entwickelt gerade das eine unerhörte Dringlichkeit. Aus dem Rohen werden Klänge der Verrohung. Das ständige Repetieren von Phrasen und rhythmischen Mustern setzt einen unerbittlichen Sog frei, der in Abgründe führt. In dieser Kälte grinst die Fratze der Entmenschlichung. Hier entscheiden sich Schicksale.
Neben den vier Solisten - der "Mann in Anzug" von Bariton Carl Rumstadt und Sopranistin Antonia Ahyoung Kim als Frau sowie Bass Andrew Robert Munn als "Mann in Militärkleidung" und Schauspielerin Nadine Geyersbach als zweite Frau - agiert noch ein siebenköpfiger Chor. Der schlüpft in die Rolle von Flüchtlingen, Grenz-Wachpersonal oder Einwanderungsbürokraten.
Bühnenbild: In einer Ödnis sind vier Solisten auf sich zurückgeworfen
Für die Regie von Alize Zandwijk hat Theun Mosk eine thematisch-assoziative Bühne entworfen. Links ragt ein Berg aus orangefarbenen Rettungswesten in die Höhe, rechts steht ein kaputtes Auto. In dieser Ödnis sind die vier Solisten auf sich zurückgeworfen. Sie stammen offenbar aus Osteuropa. "Schlechte Nachrichten treffen ein wie ein Fluss im März", heißt es. "Osteuropa gleicht einem Fegefeuer."
Als Flüchtlinge sehnen sich die vier Hauptpersonen nach Anerkennung und Frieden, um nicht mittel- und obdachlos zu bleiben oder in eine Heimat zurückgeschickt zu werden, die keine mehr ist.
Hier wird Horror hörbar
Zu diesem Szenario verdichtet ein Quintett des Ensemble Modern unter der Leitung von Elda Laro die Musik. Die verzerrten Klänge der Elektro-Geige (Giorgos Panagoitidis) und des Elektro-Kontrabasses (Paul Cannon) machen stellenweise einen Horror hörbar, der an die "Black Angels" des kürzlich verstorbenen George Crumb erinnert. Im vielfältigen Schlagwerk lässt es Sven Pollkötter beben und drohen, schauderhaft bizarr und grotesk die Klarinette von Hugo Queirós oder das Keyboard und Klavier von Ueli Wiget.
In knapp zwei Stunden bricht die Spannung nicht ab, im Gegenteil. Die Musik von Gander wird nach den ersten 45 Minuten immer nuancenreicher und packender. Wenn im Sog des Grauens plötzlich Ludwig van Beethovens "Mondschein-Sonate" paraphrasiert wird, ist vollends klar: Diese Musik ist nicht nur der perfekte Soundtrack für diesen Stoff, sondern für unsere Gegenwart.
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