Interview

Dirigentin Oksana Lyniv: Warum Gott wütend ist

Die Dirigentin Oksana Lyniv eröffnet die Saison bei den Münchner Philharmonikern.
von  Robert Braunmüller
Oksana Lyniv bei einer Probe mit den Münchner Philharmonikern vor zwei Jahren im Gasteig.
Oksana Lyniv bei einer Probe mit den Münchner Philharmonikern vor zwei Jahren im Gasteig. © Uli Neumann-Cosel

München - Mit dem Oktoberfest beginnt auch die Opern- und Konzertsaison in München. Den Anfang machen diesmal die Münchner Philharmoniker und der Philharmonische Chor unter der Dirigentin Oksana Lyniv. Sie dirigiert in der Isarphilharmonie neben der "Elegie" von Valentin Silvestrov ein neues Werk von Sofia Gubaidulina, Max Regers "An die Hoffnung" und Ausschnitte aus Wagners "Parsifal".

AZ: Frau Lyniv, Sie gelten derzeit als Kulturbotschafterin der Ukraine. Sind Sie mit dieser Rolle einverstanden?
OKSANA LYNIV: Das will ich nicht sein, und ich fördere das auch nicht. Ich möchte keine politische Rolle spielen und bleibe auf meinem Feld. Und das ist die Musik.

Im Sommer wurden auch ganz neue Werke ukrainischer Komponisten gespielt

Engagieren Sie sich deshalb vor allem für ein ukrainisches Jugendorchester, das Sie gegründet haben?
Dafür hole ich auch Kinder und Jugendliche aus dem Kriegsgebiet. Wir sind im Sommer bei einer Reihe europäischer Festivals aufgetreten. Überall haben wir auch ganz neue Werke ukrainischer Komponisten gespielt, die ganz aktuell im Krieg entstanden sind. Das war bei Proben oft schwierig, weil uns die Stücke emotional sehr bewegt haben. Unser Oboist hat ganz zufällig einen russischen Luftangriff überlebt, weil er die Sirene nicht gehört hat. Er ist mit seiner Mutter in Hausschuhen und dem Pass in der Hand aus dem Haus gelaufen, das zwei Minuten später zerstört war.

Angesichts solcher Berichte kann man verstehen, dass die 90-jährige Komponistin Sofia Gubaidulina ein Werk über den Zorn Gottes komponiert hat, das Sie heute und morgen dirigieren.
Es ist eine symphonische Dichtung, entwickelt aus einem Teil ihres Oratoriums "Von Liebe und Hass". Ich habe beim Festival "Wien modern" die Uraufführung im Musikverein als Livestream ohne Publikum dirigiert. Diese Situation war bereits ziemlich apokalyptisch. Das Stück stellt Fragen nach der Bedrohung der menschlichen Existenz. Zwei Jahre nach der Uraufführung wirkt es in der gegenwärtigen Situation noch einmal stärker.

Der Mensch hat vergessen, verantwortlich zu leben

Ist es ein religiöses Werk?
Für Sofia Gubaidulina sind Kunst und Religion identisch. Das Stück kreist um die Frage, dass der Mensch vergessen hat, verantwortlich zu leben.

Liebt denn Gott nach Ansicht der Komponistin die Menschen nicht mehr?
Das Werk endet mit einem fast barocken Gloria in Dur und in einer religiösen Ekstase.

Haben Sie die Komponistin getroffen?
Ich habe in ihrem Haus in Hamburg einen ganzen Nachmittag und Abend mit ihr gesprochen. Sofia Gubaidulina hat mir auch ihre Skizzen gezeigt und ihre Arbeitsweise erläutert. Sie macht sich viele Sorgen über die Zukunft der Gesellschaft und der Menschheit und fürchtet den wachsenden Hass.

Gubaidulina hat als Kind die willkürlichen Verhaftungen der Stalin-Zeit erlebt

Hat das auch einen aktuellen Bezug?
Sofia Gubaidulina hat Russland vor 30 Jahren verlassen. Als Kind hat sie noch die willkürlichen Verhaftungen der Stalin-Zeit erlebt. Damals lebte jeder in der Angst vor den schwarzen Autos, mit denen die Verhafteten abtransportiert wurden. Damals gab es keine Familie ohne Opfer der Repression. Niemand wagte, über heikle Themen zu sprechen. Und da stellen sich schon Assoziationen an die Gegenwart ein.

Außerdem dirigieren Sie Auszüge aus Wagners "Parsifal".
Gubaidulina und Wagner sind die beiden Säulen, auf denen das Programm ruht. Die Elegie des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov steht am Anfang - er ist mit Gubaidulina eng befreundet und gehört zur gleichen Generation wie sie. Außerdem wollte ich aus symbolischen Gründen auch ein Stück aus der Ukraine haben. Dazwischen gibt es Max Regers "An die Hoffnung" als romantische Utopie.

"Die Philharmoniker sind ein hervorragendes Orchester"

Welche Teile aus "Parsifal" sind zu hören?
Wir spielen eine Suite, die der Dirigent Claudio Abbado für die Berliner Philharmoniker zusammengestellt hat. Sie besteht aus dem Vorspiel und große Teile des dritten Akts mit Parsifals Salbung, der Taufe Kundrys, dem Karfreitagszauber und den Chören am Ende. Ich mag die vielen religiösen Ideen in dem Programm, zu der auch die buddhistische Idee einer beseelten Natur bei Wagner gehört.

Die Münchner Philharmoniker suchen derzeit einen Chefdirigenten oder eine Chefdirigentin. Welche Eigenschaften müsste diese Person haben?
Diese Frage beschäftigt mich nicht, ich konzentriere mich auf die anstehenden Konzerte. Die Philharmoniker sind ein hervorragendes Orchester. Sie beschäftigen exzellente Gastdirigenten. Ich bin ganz sicher, dass die Musiker aus diesem Kreis eine gute Wahl treffen werden.

Isarphilharmonie, am Freitag, den 16. September, 20 Uhr und am Samstag, den 17. September um 19 Uhr

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.