Die Chorgemeinschaft Neubeuern löst sich auf

Wenn Charismatiker sterben, gähnt ein großes Loch. Enoch zu Guttenbergs Chorgemeinschaft Neubeuern hat nun ihr Ende beschlossen
von  Georg Etscheit
Enoch zu Guttenberg im Spiegelsaal von Schloss Herrenchiemsee.
Enoch zu Guttenberg im Spiegelsaal von Schloss Herrenchiemsee. © Andreas Müller

Wer denkt beim Concentus Musicus Wien nicht an… Nikolaus Harnoncourt, natürlich. Seit seinem Tod gibt das legendäre Originalklangensemble zwar noch Konzerte, doch der einstige Nimbus verblasst. Der Münchner Bachchor war untrennbar mit dem großen Karl Richter verbunden. Als er starb, kam Hanns-Martin Schneidt, dem die Fußstapfen seines Vorgängers zu groß waren. Erst in jüngster Vergangenheit hat der Chor unter Hansjörg Albrecht wieder zu einer gewissen Bedeutung zurückgefunden.

Und ob die Tiroler Festspiele in Erl den plötzlichen Abgang ihres Gründers und Intendanten Gustav Kuhn wegstecken können, muss sich zeigen. Kuhn hatte sein Amt vergangenen Montag wegen sich konkretisierenden Vorwürfen sexueller Belästigung von Künstlerinnen des Festivals vorläufig "ruhend gestellt".

Der Monolith

Einer fehlt noch in dieser Aufzählung eigenwilliger und zuweilen hoch umstrittener Männer der Musik: Enoch zu Guttenberg, der Mitte Juni unerwartet starb und nicht nur eine trauende Fangemeinde zurückließ, sondern auch viele offene Konzerttermine sowie diverse Ensembles und ein ganzes Festival.

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Guttenberg war, ähnlich wie Harnoncourt und Richter, die zu seinen Vorbildern zählten, ein künstlerischer Selfmademan, ein charismatischer Tausendsassa, ein Monolith. Er pfiff auf Konventionen und schuf sich, um seine künstlerischen Visionen unverfälscht umzusetzen, eigene Ensembles und Formate, namentlich die Chorvereinigung Neubeuern sowie Kammerchor und Orchester der Klangverwaltung.

Und eben die Herrenchiemsee-Festspiele. Sie waren die ganz persönliche Schöpfung des Verehrers von Bayernkönig Ludwig II., dem er mit seiner eigenwilligen Inszenierung von Mozarts "Zauberflöte" im Blaublütermilieu gehuldigt hatte – mit dem "Märchenkönig" als Sarastro, dem Bismarck als Monostatos und Erzherzogin Sophie von Österreich als Königin der Nacht.

Der Chor war sein Lebenswerk

Als erste haben die Damen und Herren der Chorgemeinschaft eine Entscheidung getroffen: der Chor wird aufgelöst. "Das, was uns zu etwas ganz Besonderem gemacht hat, die langjährige Zusammenarbeit mit Baron zu Guttenberg, ist nicht mehr da", sagt Gertrud Dürbeck vom Musikbüro Guttenberg. Einen geborenen Nachfolger gebe es nicht. "Man würde sicher jemand finden, der mit uns weiter arbeitet. Aber wir wollen nicht immer mit dem verglichen werden, was vorher war. Der Chor war das Lebenswerk von Baron zu Guttenberg, das wir in Ehren halten und bewahren wollen."

Eine mutige, konsequente Entscheidung, aber auch eine traurige. Erst im vergangenen November hatte man das 50-jährige Bestehen gefeiert. So wird das von den Guttenberg-Söhnen Philipp und Karl-Theodor am 24. September anberaumte Gedenkkonzert im Herkulessaal mit Verdis "Requiem" unter Leitung von Kent Nagano der letzte Auftritt der Neubeurer sein. Einlass haben allerdings nur geladene Gäste. Die traditionellen Bach-Aufführungen im Gasteig vor Weihnachten und am Karfreitag übernimmt der Chor der Klangverwaltung.

Was aus der Klangverwaltung und dem dazu gehörigen Kammerchor werden soll, ist noch offen. "Wir arbeiten erstmal an den Verpflichtungen, die wir bereits eingegangen sind – bis Sommer 2019", sagt Josef Kröner, Manager der Klangverwaltung und geschäftsführender Programmdirektor der Festspiele. "Bis dahin werden wir eine Lösung finden." Die letzten Konzerte, die Guttenberg leiten sollte, hatten unter Kent Nagano und Roberto Abbado übernommen.
Blieben noch die Herrenchiemsee-Festspiele, vielleicht die schwierigste Baustelle der Nachlassverwalter wider Willen. "Enoch war Herz und Seele des Festivals. Wie es ohne ihn werden soll, vermag ich wahrlich nicht zu sagen", sagt der Dramaturg Dieter Rexroth, der zuletzt für das Programmheft und die einführenden Vorträge zuständig war.

Wie geht es auf Herrenchiemsee weiter?

Kröner organisiert derzeit die Saison 2019 so, als wenn Guttenberg noch leben würde. Das Konzept trägt die eindeutige Handschrift des Gründers. "Wir hätten auch einen Sack von Ideen, die bis 2030 reichen würden", sagt Kröner. Doch welche "Linie" würde ein möglicher Nachfolger Guttenbergs als Intendant verfolgen? "Enoch ist nicht ersetzbar. Wir wollen nicht, dass sein ursprüngliches Konzept verwässert wird und das Festival vielleicht in ein seichtes Fahrwasser gerät."

All diese Überlegungen werden hinfällig, falls die Geldquellen versiegen. "Das Festival stand zuletzt finanziell auf solidem Fundament", sagt Kröner. Der Etat betrug rund 1,2 Millionen Euro. Rund die Hälfte trug der Freistaat, die andere wurde aus Karteneinnahmen und mit Sponsoren finanziert. Eine Sprecherin von Kunstministerin Marion Kiechle sagte, dass eine weitere Förderung "angedacht" sei. Es spreche nichts gegen eine Weiterführung der Festspiele, wenn Umfang und Qualität auch nach Guttenbergs Tod gewährleistet seien.

Viel Geld vom Staat

Doch im Herbst wird gewählt. Und ob sich eine Nachfolgeregierung ohne den Einfluss des politisch bestens vernetzten Freiherrn bereit erklären wird, die Herrenchiemsee-Festspiele in gleicher Höhe wie bisher zu fördern, ist mehr als ungewiss. Zumal Guttenberg gelungen war, sich für sein Herzensprojekt die mit Abstand höchste Fördersumme aller bayerischen Musikfestivals zu sichern.

Lesen Sie hier unsere Besprechung von Guttenbergs letzter Aufnahme

Wenn einzelne, überragende Künstlerpersönlichkeiten prägen, ist dies Fluch und Segen zugleich. Zwar kann mit Persönlichkeiten vom Kaliber Richter, Harnoncourt oder Guttenberg wirkliches Außerordentliches entstehen. Doch wenn sie weg sind, gähnt ein Loch. Zumal die Männer mit dem großen Ego selten geeignete Nachfolger aufzubauen pflegen. Möglicherweise wird vom Guttenbergschen Musikuniversum nicht viel mehr übrig bleiben als die CDs und DVDs, die er für das Münchner Label Farao Classics aufgenommen hat, zuletzt eine fulminante und allseits gepriesene Einspielung der Großen C-Dur-Symphonie von Franz Schubert. Ein spärlicher Trost.
 

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