Der große Rausch

Wagners Musik kann uns in andere Sphären versetzen – oder um den Verstand bringen. Der Kulturwissenschaftler Holger Noltze erklärt, weshalb das so ist
von  Christa Sigg

Es gibt Menschen, die schlafen bei Wagner wie Fafner in seiner Höhle. Andere geraten mit der Musik des Meisters in geradezu euphorische Zustände. Der Kulturjournalist und Professor für Musik und Medien Holger Noltze (52) weiß, wovon die Rede ist, er zählt zu den profunden Kennern Wagners – und Verdis. Das fließt in seinem neuen Buch „Liebestod. Wagner, Verdi, wir” auf spannend zu lesende Weise zusammen. Mit der AZ sprach er über Märchen, Drogen und Sprengstoff.

 

AZ: Herr Noltze, wie steht es mit Ihrer ganz persönlichen Begeisterung für Wagner?
HOLGER NOLTZE: Sie hat sich im Laufe der Zeit natürlich verändert. Als ich in der Pubertät zum ersten Mal Wagner gehört habe – das „Meistersinger”-Vorspiel unter Otto Klemperer – war das anders als alles, was ich kannte. Dann las ich „Herr der Ringe” und hörte den „Ring des Nibelungen”, das verband sich zu einer Art Paralleluniversum. Am Anfang stand also ein großes Faszinosum, das ist bis heute geblieben. Aber irgendwann schaltet man auch das Hirn ein. Das Fasziniertsein und der kritische, wissenschaftliche, erkenntnisheischende Blick sind bei mir eng verschlungen, das könnte ich gar nicht mehr voneinander trennen.

Können Sie sich in dieser Musik verlieren?
Ja. Ich glaube, das ist auch Voraussetzung, und Wagner macht es einem gar nicht mal besonders schwer. Dauernd heißt es, Verdi sei so populär, Wagner dagegen schwierig. Ich kann das überhaupt nicht teilen. Verdi spielt zwar mit dem Tonfeld des Populären, hat seine Hits, aber die darf man nicht mit seinen durchaus komplexen Opern verwechseln. Bei Wagner ist der Zugang manchmal fast leichter, er holt einen ab, und dann fliegt man mit „Tristan und Isolde” in ein anderes Sonnensystem.

Könnten Sie bei Wagner in einen Rausch gelangen?
Manchmal passiert das schon. Übrigens bei einem Stück, das ich bei ideologiekritischer Sicht durchaus problematisch finde: dem „Parsifal”. Das ist mir dann auch ein bisschen unheimlich. Aber sicher, diese Musik kann die Qualität einer Droge haben.

Woran liegt das?
Abgesehen von den Klangsensationen, mit denen Wagner die Sinne umfassend anspricht, schafft er es, den Zeitsinn auszuschalten. Und das gerade nicht durch eine Dichte an Ereignissen, sondern durch das komplette Gegenteil. Es gibt dann zwei Möglichkeiten: Entweder man langweilt sich - weil eben so wenig oder nichts passiert - oder man vergisst das einfach und stellt sich auf diesen Flow ein, der aus dem Alltag vollkommen herausführt. Ich habe zum Beispiel nie verstanden, wie man die Wotanerzählung in der „Walküre” langweilig finden kann.

Sie gehört zum Besten im ganzen „Ring”.
Eben! Wagner zeigt uns doch, dass die Wirkung nicht durch ein „Immer mehr” befördert wird. Dass er so monumentalistisch ist, halte ich ja auch für ein Ammenmärchen. Sicher kann er aufs Gaspedal drücken, aber das ist nicht der Punkt. Vielmehr zieht er uns in diesen anderen Fluss. So vergehen viereinhalb Stunden unter Umständen schneller, als wenn Mozart – der Tollste überhaupt! – mal nicht so gut ist.

Christian Thielemann hält den „Tristan” ja sogar sogar für lebensgefährlich.
Ich bin mit ihm in vielem nicht einig, aber an diesen Punkt schon. Der Begriff der Gefährlichkeit ist hier weiterführend. Wir haben uns zu sehr an die Stücke gewöhnt, glauben, sie zu kennen. Oft genug ist das aber eine Rezeptionsroutine, die ausblendet, welcher Sprengstoff darin liegt. Er sagt es selbst: „Nur mittelmäßige Aufführungen können mich retten! Vollständig gute müssen die Leute verrückt machen.” Gegenüber Mathilde Wesendonck spricht er von den feinsten Substanzen, die durch die Poren der Empfindung in das Mark des Lebens dringen. Da beschreibt er ja eine Droge. Wenn uns klar ist, dass das wirklich gefährlicher Sprengstoff ist, lernen wir, die Stücke neu zu hören. Das sind nicht nur schöne Töne, bei Wagner geht es immer ums Ganze.

Im zweiten Aufzug des „Tristan” ticken viele völlig aus, manche brechen zusammen wie der Dirigent Felix Mottl. Joseph Keilberth starb noch am Pult.
Natürlich ist das dieser endlos gedehnte Höhepunkt, auch wenn's noch so banal klingt, diese immer weiter verzögerte Auflösung im harmonischen Fortgang, deshalb leuchtet H-Dur am Ende umso großartiger.

Man hat immer wieder versucht, die Wirkung Wagners auf bestimmte Ton- oder Akkordfolgen zurückzuführen.
Es ist sicher gut, dass das alles im Detail untersucht wurde, die Leitmotive ihre Namen bekamen und durchgezählt wurden... Aber so richtig kommt man dem Geheimnis nicht auf die Spur. So wenig, wie man letztlich das Qualitätsmuster einer Beethoven-Sonate erklären kann. Gäb’s ein Rezept, könnten das ja auch andere anwenden. 

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