Das kreative Chaos im Kopf

David Bowie hat das Spiel mit ständig wechselnden Images in der Popmusik eingeführt. In den Siebzigern war er mal androgyner Außerirdischer mit Landestation in London, mal amerikanischer Thin White Duke, mal Berliner. Erstmal aber musste er eine Version seiner selbst erfinden, für die sich irgendjemand auf der großen, weiten Welt interessierte. Das war seine Aufgabe im Jahr 1971.
Da drohte ihm nämlich das Schicksal eines One-Hit-Wonders. Mit "Space Oddity" hatte er 1969 einen Hit gelandet, doch danach kam nichts mehr. Das Album "The Man Who Sold The World" mit seinem bleischweren Art-Rock floppte in den USA, in seiner britischen Heimat brachte es die Plattenfirma mehrere Monate lang noch nicht mal heraus. Seine Band hatte sich aufgelöst, Produzent Tony Visconti anderen Künstlern zugewandt. Wie sollte es weitergehen für den 24-Jährigen, dessen Frau Angie das erste Kind erwartete? Anfang 1971 war sich David Bowie nicht mal sicher, ob seine Zukunft in einer Karriere als Sänger lag.
Boxset "Divine Symmetry" mit jeder Menge Demosongs
Sein Plan B war, sich auf das Songwriting für andere Künstler zu konzentrieren. Schließlich hatte ihm der Verlag Chrysalis Music gerade einen Vertrag gegeben. Also nahm er einen Song nach dem anderen auf, manchmal in einem kleinen Studio mit ein paar Begleitmusikern, oft aber zuhause mit der akustischen Gitarre. Dort stand neuerdings auch ein Klavier, das ein Nachbar ihm geschenkt hatte - eine großzügige Geste mit musikhistorischen Folgen: Das Instrument inspirierte Bowie zu "Changes" und "Life On Mars?", die er ebenfalls in spartanischen Versionen aufnahm.
All diese Demos kann man nun in dem Boxset "Divine Symmetry" hören. Es umfasst einen hundertseitigen Prachtband mit umfassenden Informationen, zeitgenössischen Texten und zahllosen tollen Fotos - zum Beispiel mit Bowie als Pharao -, zudem ein Faksimile von seiner damaligen Notizkladde und auf vier CDs und einer Blu-Ray noch viel mehr Musik aus diesem entscheidenden Jahr 1971. Etwa eine komplette BBC-Radiosendung, John Peels "In Concert", zu der Bowie im Juni eingeladen war. Dafür stellte er eigens eine neue Band mit Mick Ronson, Trevor Bolder und Woody Woodmansey zusammen, brachte zudem ein paar völlig unbekannte Freunde mit und überließ ihnen bei mehreren Songs das Mikrofon. Wenn er selbst davorstand, wirkte er bei seinen Ansagen fast schüchtern.
In voller Länge ist auch ein entscheidender Auftritt in Aylesbury im September zu hören. Da spielten er und Ronson zunächst als Duo zwei Songs des wenig bekannten amerikanischen Songwriters und Stand-Up-Comedians Biff Rose. Dann sang Bowie ein eigenes Lied, "Space Oddity", das er "so schnell wie möglich hinter sich bringen" wolle, so seine Ansage. Doch das Duo klang gut, und als der Rest der Band hinzukam und neue Songs spielte, wurde es noch besser und das Publikum jubelte ihnen zu. Nachdem Bowie von der Bühne gegangen war, verkündete er euphorisiert im kleinen Kreis: Ich werde Rockstar!
So sollte es kommen. Dabei war auch sein Plan B inzwischen ganz gut gediehen: Pop-Sänger Peter Noone hatte nach seinem Ausstieg bei Herman's Hermits "Oh! You Pretty Things" aufgenommen, mit Produzenten-Mogul Mickie Most und Bowie am Piano - und dessen von Nietzsche inspirierte Übermenschen-Fantasie wurde in der zuckrig-poppigen Version ein kleiner Hit. Der Song erschien dann im Dezember nochmal auf dem Album "Hunky Dory", das Bowie in nur zwei Wochen im Juli und August mit dem Produzenten-Neuling Ken Scott aufgenommen hatte.
Es ist auf "Divine Symmetry" in einer 2015 gemasterten Version auf Blu-Ray enthalten. Außerdem sind einige der Songs in neuen, sehr frisch und gut klingenden Mischungen von Ken Scott zu hören, die vieles zum Vorschein bringen, was vorher weniger prominent oder gar nicht verwendet wurde, etwa ein anderes Saxophon-Outro Bowies bei "Changes". Sechs Songs gibt es zudem in Mischungen einer Promo-LP von 1971, mit der Bowies Manager Tony Defries seinen Schützling anpries, kurioserweise im Doppelpaket mit der Sängerin Dana Gillespie.
Über alle Maßen kreativ, aber völlig unschlüssig über die musikalische Richtung
Wer eher vages Interesse an Bowie hat, wird mit diesem opulenten Boxset überversorgt: So sind etwa fünf Versionen von "Song For Bob Dylan" zu hören und ebenso viele von Jacques Brels "Amsterdam", die seinerzeit allesamt unveröffentlicht blieben. Für Fans hingegen bietet sich hier ein sehr interessanter Einblick in Bowies verschlungene Reise zum Ruhm.
Denn Bowie war 1971 zwar über alle Maßen kreativ, aber völlig unschlüssig über die musikalische Richtung, die er einschlagen solle: Er coverte französische Chansons, aber auch Chuck-Berry-Oldies und The Velvet Underground. Er schrieb anspruchsvolle Popsongs wie "King Of The City", "Tired Of My Life" oder "Shadow Man", die hier als Demos zu hören sind, damals aber allesamt unter den Tisch fielen - und leichtgewichtigen Rock wie "Looking For A Friend". Den Song nahm damals die von Bowie am Reißbrett geschaffene Band The Arnold Corns auf: Mit der wollte er sich als Produzent zum Macher von Stars aufschwingen, bevor er selbst einer wurde.
Das ist eine weitere - komplett erfolglose - Episode des Jahres 1971, eine der vielen Wendungen dieser wirren künstlerischen Reise, deren Ziel mit der Veröffentlichung von "Hunky Dory" im Dezember erreicht war. Oder zumindest fast. Denn das Album war zwar großartig, verkaufte sich aber zunächst schwach.
Doch schon vor der Veröffentlichung, im November 1971, hatte dieser hyperkreative Künstler noch eine weitere Platte fast komplett fertiggestellt: "The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars". Sie erschien ein halbes Jahr später und machte Bowie zum Star. In der Folge wurde auch "Hunky Dory" nachträglich zum Hit und später zum einhellig gefeierten Klassiker. Und das Foto des androgynen Mannes auf dem Cover, das von Greta Garbo inspiriert wurde, sollte als erstes der vielen berühmten Images des David Bowie in die Geschichte eingehen.
David Bowie: "Divine Symmetry" (4 CDs und BluRay Audio, bei Parlophone/Warner)