Das Dirigentenkarussell
Wer wird Nachfolger von Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern?
Schauen wir mal in unsere Kristallkugel, gespeist von Erfahrungen aus Nürnberg, Berlin und München: 2014 wird das ganz große Bauchkribbeln bei Christian Thielemann und der Staatskapelle Dresden verflogen sein. Die ersten Musiker beginnen zu meckern, weil bei ihnen kein anderer Dirigent Brahms, Beethoven, Bruckner, Strauss und Wagner kapellmeistern darf.
Im Jahr 2016 wird Thielemann in Dresden seinen zweiten Orchestermanager und den dritten Intendanten der Staatsoper verschlissen haben. Dann wird es wegen einer Bagatelle krachen. Thielemann grollt, und zwei Tage später geben die Berliner Philharmoniker bekannt, dass sie den Dirigenten in einer geheimen Orchesterversammlung zum Nachfolger für Simon Rattle gewählt haben. Der wird, wie vorgestern bekannt wurde, seinen 2018 ablaufenden Vertrag nicht mehr verlängern.
Dann wäre der Berliner und Karajan-Zögling am Ziel seiner Wünsche. Das berühmteste Orchester der Nation könnte wieder den ominösen „deutschen Klang“ kultivieren, der sich unter Simon Rattle ins Internationale verflüchtigt oder auch verfeinert hat – das ist Ansichtssache. Vielen Abonnenten aus dem Westberliner Bürgertum war der Öffnungskurs mit Jugendprojekten wie „Rythm Is It!“ immer ein wenig suspekt.
Es kann sein, dass sich die Musiker nach dem Aufbruch unter Rattle wieder nach jener Gediegenheit sehnen, für die Thielemann steht. Denn über eines sollte man sich nicht täuschen: So umstritten der Bursche auch ist – alle Orchester wollen unter ihm spielen. Aber die Wahl eines Chefdirigenten, die sich in Berlin basisdemokratisch vollzieht, ist eine Richtungsentscheidung. Möglicherweise bleiben die Musiker auch den Wuschelköpfen treu und holen sich nach der ergrauten nun die tiefschwarze Variante: Mit dem venezolanischen Feuerkopf Gustavo Dudamel würde die Internationalisierung der Berliner Philharmoniker zum Weltorchester fortgesetzt.
Die großen Alten wie Lorin Maazel, Zubin Mehta, Bernard Haitink oder Riccardo Muti kommen als Nachfolger für Rattle kaum mehr in Frage. Mariss Jansons wäre bei einem Amtsantritt 76 Jahre alt. Nach Amsterdam und München wird er kaum einen neuen Chefposten übernehmen. Immer im Rennen sind natürlich die üblichen jüngeren Verdächtigen wie Andris Nelsons, in der mittleren Generation bleibt Antonio Pappano der Geheimtipp für jeden musikalischen Posten.
Aber nichts ist schwieriger, als die Kollektivpsyche eines Orchesters einzuschätzen. Die Berliner Philharmoniker bestehen aus 130 selbstbewussten Individualisten. Sie sind das Muster eines modernen Klangkörpers, bei dem junge und erfahrene Musiker in bestmöglicher Mischung zusammenspielen. Mit der Digital Concert Hall hat das Orchester auch die Bedeutung des Internets in einer Weise begriffen, von der man in München nur träumen kann.
Und was macht Rattle nach 2018? Er könnte den verblassten Glanz in Chicago, New York oder Philadelphia wieder aufpolieren. Eins wird er sich gewiss nicht antun: die Münchner Philharmoniker. Aber er wäre genau jener kommunikative Kopf, den diese kapriziöse Prinzessin bräuchte, um endlich wieder wachgeküsst zu werden.