Daheim wird man nicht berühmt
Als das Philadelphia Orchestra 1955 seine erste Europa-Tournee ankündigte, hagelte es wütende Proteste. Viele Abonnenten waren der Auffassung, das Orchester habe seine Aufgaben zuhause zu erfüllen und nicht anderenorts zu zeigen, wie gut es ist. Die Devise heute: Wer nicht oder nur wenig unterwegs ist, wird nicht oder nur wenig wahrgenommen.
Der Manager des BR-Symphonieorchesters, Stephan Gehmacher, bringt es auf den Punkt: „Um unter den Großen mitzuhalten, muss man überall präsent sein. Wer daheim bleibt, wird nicht berühmt.“ Und außerdem sei „ein Konzert in Tokios Suntory Hall für das Orchester kommerziell weitaus sinnvoller als jeder Auftritt im Münchner Herkulessaal“.
Schon lange hatte sich Mariss Jansons gewünscht, mit seinen Münchnern und dem BR-Chor in einem der schönsten Konzertsäle der Welt Beethoven zu musizieren. Dass gelegentlich freie Plätze zu entdecken waren, ist bei Kartenpreisen von 110 bis 350 Euro nicht verwunderlich. Beim Tokyo Symphony Orchestra kann man an gleicher Stelle eine Menge Musik – etwa Mahler-Lieder plus Bruckner-Symphonie – schon für 20 Euro genießen.
Im Gespräch schwärmte der Maestro von dem „musikalischen Tempel“, den Beethoven erbaut habe. Ein wenig überraschend meinte er: „Roger Norrington hat viele Türen geöffnet.“ Jansons Tempi sind im Verlauf der Jahre rascher geworden, was im Finale der Neunten vor allem die fabelhaften Solisten Christiane Karg, Mihoko Fujimura, Michael Schade und Michael Volle gespürt haben dürften. Aber seine Grundhaltung ist romantisch geblieben: „Als ich das Heiligenstädter Testament gelesen habe, musste ich weinen“, bekennt er, „und zur gleichen Zeit entsteht die zweite Symphonie! Wie passt das zusammen?“
Viel Zeit, solche Gedanken zu vertiefen, blieb nicht. Denn der Fernost-Trip von Seoul über den Süden Japans nach Tokio erforderte eine Menge an Konzentration auf den musikalischen Alltag. Der japanische Rundfunk NHK nahm die Konzerte in Tokio fürs Fernsehen auf. Später sollen sie auf DVD erscheinen. Das bedeutete am Tag der Aufführung Probe in Frack und Abendrobe sowie danach, ebenfalls in voller Montur, „Patch-Sessions“ für die erforderlichen Korrekturen.
Dass Mariss Jansons ökonomisch und effektiv zu proben versteht, erleichterte den Stress ein wenig. Der Maestro weiß, dass alle Orchester an den gleichen Stellen einer Partitur Probleme haben – die einen mehr, die anderen weniger. Seine Anweisungen sind ruhig und bestimmt. Als ihm im Andante der ersten Symphonie die Pauke zu dumpf schien, insistierte er sanft, aber energisch so lange, bis der Gast-Trommler Rainer Seegers von den Berliner Philharmonikern, der den erkrankten Münchner Kollegen vertrat, die Schlägel wechselte.
Dennoch war gelegentlich zu spüren, wie sehr ihn das alles anstrengt. Gerüchte, der BR sei mit Daniel Harding bereits einig, falls Mariss Jansons seinen bis 2015 laufenden Vertrag nicht verlängern möchte, dementiert Gehmacher gelassen: „Wir wollen unseren Chefdirigenten so lange wie möglich an uns binden. Und ansonsten gilt weiter, dass neben den großen alten Herren wie Bernhard Haitink eben auch die jüngere Generation bei uns dirigieren soll, also Franz Welser-Möst, Esa-Pekka Salonen und eben auch Daniel Harding.“
Am überzeugendsten gelangen die eher unspektakuläre zweite Symphonie und die Pastorale. Die Neunte erhielt vor allem durch den zum ersten Mal in Japan gastierenden BR-Chor zusätzlichen Glanz. Sie löste Ovationen aus, die selbst ein erfahrener Münchner Konzertbesucher in dieser Dauer und Heftigkeit vorher nicht kannte. Und einen Run an den CD-Verkaufsstand: Der BR hatte noch rasch eine Box mit sämtlichen Beethoven-Symphonien ins Rennen geschickt, die vorerst nur in Japan erhältlich sein wird.
Die leidige Konzertsaaldebatte blieb diesmal ausgespart. Nur ein Geiger traute sich: „Wenn wir in München einen solchen Saal hätten, dann wären wir längst die Nr.1.“ Getreu dem Motto des FC Bayern: Mia san mia!