Conchita Wurst: Beim ESC geht es um den Wurst

Thomas Neuwirth (25) ist als Conchita Wurst der Star. Der „Eurovision Song Contest“ ist weit mehr als ein Schlagerfestival: Am Samstag werden die Punkte vergeben!
Matthias Maus |
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Thomas Neuwirth (25) ist als Conchita Wurst der Star. Der „Eurovision Song Contest“ ist weit mehr als ein Schlagerfestival: Von Toleranz bis Ukraine klingen die ganz großen Themen an, wenn am Samstag die Punkte vergeben werden

Wind und Dampf, Krach und Schmalz, Haut und Haar, jaja. Man kann die Nase leicht hochnehmen und prompt reinfallen, wenn es um den Eurovision Song Contest geht. Das wäre aber schade. Denn der Schlager-Gipfel mag Kulturpessimisten schreiend davonlaufen lassen, er mag akustische und optische Zumutungen bieten. Bloß eines ist die Show, die Samstag in Kopenhagen steigt, nicht: belanglos.

Ralph Siegel über Conchita Wurst: "Tolle Persönlichkeit"

Sie ist mindestens so politisch wie eine Plenarsitzung des EU-Parlaments, hat aber deutlich höhere Einschaltquoten. Es kommen große Themen dran: von der Ukraine über Kindsmissbrauch und Alterscomeback bis zu Schwulenrechten.

Es geht um die Wurst oder den Wurst, und es gibt sogar ein richtig gutes Lied. Aber davon später.

Lesen Sie hier: ESC-Finale: Conchita Wurst ist dabei!

Deutschland ist eine Macht in Europa. In der Eurovision, der Vereinigung der europäischen Radiostationen EBU, ist das nicht anders. Weil „wir“ zu den fünf größten Zahlern der EBU gehören, sind „wir“ gesetzt, dürfen – wie Frankreich, Italien, Großbritannien, Spanien – und Titelverteidiger immer mitmachen.

Das hat der Auswahl der Kandidaten nicht immer gutgetan. Vergangenes Jahr gab es mit Platz 21 (von 26) für Cascada eine peinliche Klatsche. Das soll und dürfte sich nicht wiederholen. Ela, Yvonne und Nathalie singen für uns. Sie sind „Elaiza“, mit Gesang, Quetschen und Kontrabass haben sie sich durchgesetzt.

In der Vorentscheidung haben sie per Telefon-Voting die Favoriten von „Unheilig“ aus dem Rennen geworfen. Das ist eine Ansage. Nur Zyniker würden bei „Is it right“ von Reggae-Stampf sprechen. Das Drei-Minuten-Ding hat Potenzial, einen Platz im unteren Mittelfeld prophezeien die Buchmacher. An die Wiederholung des Lena-Wunders, dem letzten deutschen Sieg von 2010, glaubt aber keiner.

„Es ist ein Traum“, hatte Elaiza-Frontfrau Ela, eine gebürtige Ukrainerin mit Wohnsitz Berlin, nach dem Sieg im nationalen Ausscheid geschwärmt. Es war eine rührende Veranstaltung, an deren Ende Moderatorin Barbara Schöneberger „Ein bisschen Frieden“ anstimmte, Nicoles viel geschmähte Sieger-Melodie von 1982. Schöneberger adressierte die Schnulze ausdrücklich an Wladimir Putin. Es ist ein politisches Event.

Montag, am Abend vor dem ersten Halbfinale, gab es im Rathaus von Kopenhagen einen Empfang für die Abgesandten aller 37 Teilnehmernationen. Und ausgerechnet die „taz“ stellte die bange Frage: „Wird die russische Delegation mit den Ukrainern ins Gespräch kommen?“

Gibt es so etwas wie Schnulzen-Diplomatie? Wenn ja, dann hat sie bisher nicht richtig funktioniert. Es gibt ein gemeinsames Twitter-Foto von Maria Yaremchuck (Ukraine) und den Tolmachevy-Zwilligen, die für Russland tirilieren. Aber während Yaremchuck mit viel Beifall ins Finale einzog und sich danach patriotisch einließ: „Hinter mir stehen 46 Millionen Ukrainer!“, gab es nach dem Gesang der russischen Zwillinge viele Buhs aus dem Publikum – und Tränen auf den porzellanfarbenen Wangen der Mädchen.

Grund für Putin, zu zürnen. Denn „Bild“ weiß: Der Zar will ein gutes Ergebnis. Der Bild-Reporter hörte von sogenannten „Voting Camps“. In denen sorgen Exil-Russen in den Ex-Sowjetrepubliken dafür, dass die Mädchen gut abschneiden. Ob Moskau-treue Separatisten freiwillig voten oder ob es sich um Zwangslager handelt, muss Gegenstand von Spekulationen bleiben.

Wenn Putin zuschaut, wird der Samstag kein reines Vergnügen für ihn: Muss doch sein Sender auch Conchita Wurst herzeigen. Der Schwule aus dem oberösterreichischen Gmunden tritt als Drag Queen auf, mit Stola und Ballkleid. mit Lippenstift und Vollbart. In Österreich ist er ein Star, sein neues Album heißt: „The Wiener takes it all“, sein Lied „Rise like a Phoenix“ klingt wie eine James-Bond-Titelmelodie. Bleiben wird sein Statement: „Weil’s Wurst ist, ob Mann oder Frau“ wählte Tom Neuwirth den gewöhnungsbedürftigen Künstlernamen.

Lesen Sie hier: Eurovision Song Contest 2014 Chonchita Wurst, Raab, Lordi: Schräge ESC-Auftritte

„Es gab viele Anrufe beim russischen Sender, diese Sängerin rauszuschneiden“, sagt der russische Journalist Michail Kesarew zur taz. Aber der Sender sagte, das gehe nicht, und die Sendung sei eh nach Mitternacht in Russland.

Politische Statements sind verboten laut Reglement. Aber Conchita Wurst, sein triumphaler Final-Einzug und seine Favoritenrolle sind eine saftige Watschen für alle Schwulenhasser.
Nicht genug der heißen Eisen. Singt doch der Ungar Andras Kallay-Saunders von Kindsmissbrauch und seinen Opfern. Da man nicht mehr in seiner Landessprache singen muss, ist der Text von „Runnings“ ein Stimmungskiller. Bei den Buchmachern ist das Lied trotzdem vorn.

Deutlich vor Deutschland, noch deutlicher aber vor San Marino, das immerhin ins Finale kam. Es ist ein Erfolg für Ralph Siegel, der einst eben jenes „bisschen Frieden“ komponierte, der seither den alten Erfolgen hinterherklimpert und der jetzt 68-jährig ein Alters-Comeback feiert.

Das muss man nicht sehen, und man muss es nicht hören. Man kann aber. Man sollte mal hinhören, was „The Common Linnets“ können. Für Holland singt das Duo „Calm after the Storm“. Es ist richtig gut. Vielleicht zu gut für den ESC.

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