Christian Gerhaher und Mozarts Revolutionsoper

Ferrando und Guglielmo behaupten, dass die beiden Schwestern Dorabella und Fiordiligi, die sie über alles lieben, ihnen niemals untreu werden könnten. Don Alfonso, laut Personenverzeichnis "ein alter Philosoph", wettet dagegen.
Das ist die Ausgangssituation von Mozarts Oper "Così fan tutte", die Vladimir Jurowski (musikalische Leitung) und Benedict Andrews (Regie) neu im Nationaltheater herausbringen. Christian Gerhaher singt den Don Alfonso.
AZ: Herr Gerhaher, Sie sind zwar Philosoph, aber nicht alt. Ein bisschen überrascht war ich schon, dass Sie den Don Alfonso singen.
CHRISTIAN GERHAHER: Den Guglielmo kann ich nicht mehr singen, für den bin ich jedenfalls zu alt. Ob Don Alfonso ein Philosoph ist, weiß ich nicht, ich bin's eh nicht, aber die Rolle hat schon mit den Philosophen und prominenten Vertretern der Aufklärung zu tun. Die Betonung des Rationalen, die Bezeichnung des Menschen als Maschine und die Religionskritik haben eine Leere entstehen lassen, die den Menschen zu schaffen machte. Das erzeugte eine Melancholie, die am Ende von Mozarts Oper eine große Rolle spielt.
"Melancholie der Romantik als Folge der Aufklärung"
Das klingt etwas nach der berühmten Dialektik der Aufklärung.
Das sind gegenläufige und zugleich sich wechselseitig bedingende Entwicklungen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Der Musikwissenschaftler und Dirigent Peter Gülke har mir neulich geschrieben, dass er die Melancholie der Romantik als Folge der Aufklärung versteht. Das ist ein Satz, der dieses Problem sehr gut beschreibt.
"Così fan tutte" ist aber zumindest oberflächlich eine Komödie.
Alle drei Opern Mozarts auf Libretti von Lorenzo da Ponte changieren zwischen Tragödie und Komödie. "Così fan tutte" reflektiert als Spiel im Spiel die Opera buffa und sie nimmt beispielsweise in Fiordiligis Felsenarie auf eine etwas erstaunliche Weise die Opera Seria in die Buffa mit hinein. Diese Oper hat aber auch einen tragischen Kern: Wenn Alfonso aus einer Laune heraus diese Wette vorschlägt, die Treue der Frauen auf die Probe zu stellen, ist das eine offene Geschichte: Es hätte auch so ausgehen können, dass sich erneut die ursprünglichen Paare treffen.
Eine grausame Wette
Vielleicht ist das sogar Don Alfonsos Plan.
Aber am Beginn des zweiten Akts entscheidet sich Dorabella explizit für Guglielmo. Dies löst eine Entwicklung aus, die mit einer Komödie nicht mehr viel zu tun hat. Mozart hat die Charaktere aus der quasi-chemischen Sextett-Versuchsanordnung vom Anfang der Oper herausgenommen und individualisiert – mit den menschlich verständlichen Folgen dieser grausamen Wette der drei Männer. Es ist, als ob 1791, im Entstehungsjahr dieser Oper, das Umschlagen gesellschaftlicher und weltanschaulicher Positionen in dieser Oper reflektiert wird: Aus dem Spiel mit den Affekten entwickelt sich ein individuelles Getriebensein von subjektiven Gefühlslagen. Insofern ist auch "Così" eine Revolutionsoper.

Trotzdem gibt's am Ende – zu einer sehr hektischen Musik – so etwas wie eine Versöhnung.
Wenn Don Alfonso anordnet, die Paare mögen sich umarmen und über das Geschehene schweigen, kann man schlecht davon ausgehen, dass es sich um eine funktionierende Versöhnung handelt. Kurz davor sagt er den vielleicht bedrückendsten Satz der ganzen Oper: "Vertraut mir, es wird alles gut ausgehen." Daher ist dem Ende nicht zu trauen. Die Handlung von "Così fan tutte" ist einerseits konstruiert und künstlich, anderseits enthält sie sehr viel Natürlichkeit und Wirklichkeit. Mozarts Meisterschaft besteht darin, dass er die Menschen in ihrer psychologischen Vielfalt und Interaktion so beschrieben hat wie keiner vor ihm und wie nach ihm lange keiner mehr.
Der gealterte Alfonso
Rächt sich Alfonso mit seiner Wette für etwas?
Ich denke, es spielt eine Rolle, dass Alfonso als Gealterter sehen muss, wie er selbst erotisch und sexuell nicht mehr, oder nur noch mit großem Aufwand zum Zug kommt. Daher möchte er den beiden Verliebten wohl auch ein Stück weit den Spaß vermasseln.
Don Alfonso hat keine attraktiven Arien. Was interessiert Sie musikalisch an der Rolle?
Ich finde die Musik Mozarts hinreißend – vor allem im ersten Akt. Es macht einfach Spaß, da dabei zu sein. Und Mozarts Rezitative sind immer eine Herausforderung. Außerdem – und das spielt bei mir für jede Musik immer eine große Rolle – möchte ich diese Oper noch besser und intensiver kennenlernen.
Ruhige Gangart
Es ist Vladimir Jurowskis erste Mozart-Oper in München. Wie nähert er sich der Musik?
Mir gefallen besonders seine Tempi, wegen der ruhigen Gangart, die zu dieser Oper sehr gut passt – als dialektische Gegenwelt zu der Geschwindigkeit, mit der die Handlung in 24 Stunden, also zwischen den Nummern und Rezitativen, abläuft. Davon abgesehen ist mir ein zu schneller Mozart ohnehin ein Graus. Jurowskis Stil ist klangsinnlich, intellektuell und zugleich historisch informiert.
Sie haben eben ein Großprojekt vollendet: die Gesamtaufnahme aller Lieder von Robert Schumann. Was kommt danach?
Das war ein Lebensprojekt von Gerold Huber und mir. Es gibt noch eine Reihe von Liedkomponisten, die mich stark interessieren, wie etwa Othmar Schoeck – eine Suchtmusik, die ich für mich noch nicht ausgelotet habe. Auch Viktor Ullmann und Erwin Schulhoff interessieren mich, ebenso wie Debussy, Fauré und Brahms. Aber eigentlich sind mir enzyklopädische Projekte fremd.
Über die Initiative "Aufstehen für Kultur"
Sie haben sich in der Initiative "Aufstehen für Kultur" gegen die Schließung von Spielstätten in der Pandemie eingesetzt. War das – im Rückblick – ein Erfolg?
Künstler sind – berufsbedingt – sehr auf ihre Individualität bedacht. Es fällt ihnen schwer, politisch mit einer Stimme zu sprechen. Insofern fand ich wichtig, dass wir uns hier gemeinsam für unsere Interessen eingesetzt haben. Es ging uns speziell darum, juristisch klären zu lassen, inwieweit der Staat die Freiheit der Kunst beschneiden durfte. Wir haben vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof immer noch keine Antwort auf unsere Klage bekommen.
Bei einer Kundgebung vor der Bundestagswahl mit Olaf Scholz am Marienplatz gab es einen kurzen Film, in dem Sie als Unterstützer aufgetreten sind. Wie kam es dazu?
Ich bin Mitglied der SPD. Die traditionsreichste deutsche Partei hat ein historisches Erbe, das man meines Erachtens nicht verspielen darf. Mit dem Egoismus der sich christlich nennenden Parteien komme ich nicht zurecht. Daher habe ich mich im Wahlkampf für Olaf Scholz engagiert, aber ich habe für mich keine politischen Ambitionen.
Premiere am 26. Oktober um 19 Uhr im Nationaltheater, Restkarten an der Abendkasse. Die Vorstellung wird live auf staatsoper.tv ins Internet übertragen