Interview

Christian Gerhaher: Schneeglöckchen im Winterwind

Christian Gerhaher über Robert Schumann, dessen Lieder er komplett aufgenommen hat.
von  Michael Bastian Weiß
Christian Gerhaher und sein ständiger Klavier-Partner Gerold Huber (rechts).
Christian Gerhaher und sein ständiger Klavier-Partner Gerold Huber (rechts). © Nikolaj Lund

München - Eine über 30-jährige Beschäftigung mit Robert Schumann ist in die Gesamtaufnahme der Lieder eingeflossen, die Christian Gerhaher zusammen mit seinem ständigen Liedpartner Gerold Huber und einigen Kolleginnen und Kollegen vorgelegt hat. Im AZ-Interview spricht der Bariton über sein besonderes Verhältnis zu diesem Komponisten.

Bariton Christian Gerhaher hat die Lieder von Robert Schumann neu aufgenommen

AZ: Herr Gerhaher, haben Sie ein persönliches Lieblingslied aus Schumanns Oeuvre?
CHRISTIAN GERHAHER: Wenn es etwas Unbekanntes sein darf, dann das "Schneeglöckchen" op. 96 Nr. 2: kein liebes Frühlingslied, sondern das Gegenteil. Hier wird das Schneeglöckchen aufgefordert, nach Hause zu gehen, weil der Winterwind kommt. Das passt eigentlich gar nicht zusammen, auch bleibt der Autor anonym. Ich habe jedoch in einem Buch über Uniformen das Bild des Soldaten eines Privatregiments gefunden, das im Siebenjährigen Krieg zur Hannoveranischen Partei gehörte. Dieser Kavallerist sah tatsächlich aus wie ein Schneeglöckchen: weiße Livree mit grünem Saum. Und es gab auch eine brutale Schlacht bei Moys, wo die Habsburger die Hannoveraner nach Norden vertrieben haben - davon wird ja auch im Lied gesprochen. Dass hier viele ungeklärte Dinge in einen fast dramatischen Zusammenhang gebracht werden, finde ich typisch für Schumann.

Christian Gerhaher über eine "vergiftete Erbschaft"

In der Box mit allen Liedern finden sich auch viele praktisch unbekannte Gesänge aus Schumanns letzten Lebensjahren. Was sagen Sie zu den unausrottbaren Vorwürfen, das Spätwerk zeige als Folge seiner Erkrankung "eine gewisse Ermattung"?
Wie soll man dagegen argumentieren, außer zu sagen: Jedem Menschen ist eine Erfahrungswirklichkeit zu eigen, die man nicht anzweifeln kann. Diese kann sich in einem Krankheitszustand verdichten. Ich verstehe persönlich aber auch nicht, wie einem etwa die "Geistervariationen" nicht zu Herzen gehen können, und zwar ohne jeden biografistischen Hintergrund, etwa zu welchem Zeitpunkt der Komposition sich Schumann in den Rhein gestürzt hat. Das ist an sich unerheblich. Wer maßt sich an zu sagen, was Mozart und Bach nicht wert sind? Das macht keiner. Aber bei Schumann trauen sich alle. Das ist eine vergiftete Erbschaft, die von Joseph Joachim, Johannes Brahms und Clara Schumann hinterlassen wurde.

Gerade Brahms hat ja viel von Schumann gelernt und auch manche Einfälle übernommen.
Ich möchte Brahms nichts Böses unterstellen. Aber die Tatsache, dass er als de-facto-Sachwalter von Schumanns Erbe schriftlich äußert, dass ihm die Verbrennung der späten Cello-Romanzen durch Clara "sehr imponiert" habe, kann man ihm nur anlasten.

"Manche Gedichte hat Schumann selbst ein bisschen hingebogen"

Worin besteht dann das Missverständnis?
Schumanns Expressivität kann nicht mehr als unbedingt kommunikativ oder direkt verständlich begriffen werden, da sie, wie Gerold Huber es ausdrückt, oft schier rückwärts gerichtet ist, also nach innen.

Sollte der Sänger also ein bisschen dagegensteuern, etwa, indem man das dramatische Moment betont?
Die "Dichterliebe" zum Beispiel hat ja etwas Kurzatmiges und Schnelles und Dramatisches, das ergibt sich automatisch. Beim Kerner-Zyklus hingegen ist es nicht ganz einfach, das Erzählerische aus den Gedichten aufzubauen. Manche Gedichte hat Schumann meines Erachtens selbst ein bisschen hingebogen, um einen erzählerischen Zusammenhang zu erzwingen. Das versuche ich, durch meine Darstellung zu betonen.

Christian Gerhaher: "Schumann entwickelt seine Deutung konträr zum Inhalt des Gedichts"

Wie macht man das?
Man kann Schumanns Uminterpretationen der Texte hervorheben. Zum Beispiel spricht Kerner in dem Gedicht "Frage" von einem "Lied aus voller Menschenbrust" und denkt das in einem romantischen Sinn positiv. Schumann aber komponiert ein Ende auf einen offenen Akkord und lässt das Lied damit als Frage offen. Dazu kommen ein Crescendo, sich aufschaukelnde Synkopen, ein Ritardando. Diese Elemente deuten den Sinn musikalisch so um, dass es genau diese "Menschenbrust" war, die den todgeweihten Sänger verletzt hat. Schumann entwickelt also seine Deutung konträr zum Inhalt des Gedichts. Das muss man darstellerisch vielleicht sogar ein bisschen übertreiben.

Die anderen Stimmen sind Sibylla Rubens, Wiebke Lehmkuhl und Martin Mitterrutzner 

Wie sind die anderen Stimmen für die Gesamtaufnahme ausgewählt worden?
Wir haben beispielsweise mit Sibylla Rubens, Wiebke Lehmkuhl, Martin Mitterrutzner und mir ein sehr unterschiedliches Quartett für die mehrstimmigen Lieder. Die Stimmen verwirklichen keinen chorischen Klang, sondern behalten ihre Individualität. Normalerweise wird, wenn in einem Lied zwei oder mehr Stimmen gleichzeitig singen, der typische Lied-Charakter verlassen. Meiner Ansicht nach sind die mehrstimmigen Lieder somit Ausdruck einer anderen Welt, einer Schumann'schen Wunschvorstellung des Lebens, wohingegen die einstimmigen Lieder eher Ausdruck seiner Lebensrealität sind - und dadurch zu größerer Melancholie neigen.

Können in unserer Zeit mit ihrem hohen Gender-Bewusstsein und der damit verbundenen Offenheit zum Beispiel auch Männer die Maria-Stuart-Lieder singen?
Ich persönlich würde es nicht unbedingt machen wollen, würde aber auch nicht widersprechen. Ich habe ein paar Beispiele sowohl für die eine als auch die andere Seite gehört, die mich nicht unbedingt überzeugt haben, beispielsweise, wenn die "Dichterliebe", eine Art Monodrama aus männlicher Sicht, von einer Frau gesungen wird, oder "Frauenliebe und Leben" von einem Mann. Die Begründung, dass es schließlich ein Mann war, Adalbert von Chamisso, der die Gedichte geschrieben hat, zählt für mich nicht, denn dann könnte ich ja auch die Gräfin im "Figaro" singen, weil auch der Librettist da Ponte ein Mann war und Mozart noch dazu. "Künstlerische Freiheit" fände ich aber eine gute Begründung.

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