Christian Gerhaher ruft zur Revolte gegen Horst Seehofer auf

Es drängt zum Ausdruck: Bernard Haitink dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Christian Gerhaher singt Mahler
von  Michael Bastian Weiß
Es drängt zum Ausdruck: Bernard Haitink dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Christian Gerhaher singt Mahler
 
Schwierige Zeiten verlangen nach ungewöhnlichen Mitteln. Und so kehrt Christian Gerhaher nach seinen Liedinterpretationen beim Schlussapplaus auf die Bühne der Philharmonie am Gasteig zurück und richtet eine eindringliche Ansprache an das Publikum. „Es ist nicht richtig, sich über Stolz zu definieren“, sagt der Wunderbariton, aber München sei doch eine Musikstadt, und genau dieser Status werde nun durch das gebrochene Versprechen, einen neuen Konzertsaal zu bauen, nachhaltig gefährdet. Gerhaher gibt zu bedenken, dass ein Umbau der Philharmonie am Gasteig unkalkulierbare Folgen und Risiken mit sich brächte und appelliert an die Musikfreunde, Ministerpräsident Horst Seehofer und Oberbürgermeister Dieter Reiter kein Abklingen des Entrüstungssturms zu gönnen. Bürgern, denen das musikalische Leben Münchens am Herzen liegt, sollten sich auf den ausliegenden Unterschriftenlisten eintragen – oder den Verantwortlichen gleich persönlich schreiben.
 
Selbst, wenn er also zu einer kleinen Revolte aufruft, bleibt Christian Gerhahers Stimme hierbei sanft und behält ihren charmanten niederbayerischen Akzent bei. Vielleicht haben auch die vorangegangenen Gesänge Gustav Mahlers nach Texten Friedrich Rückerts seinen Tigersinn ein wenig besänftigt, schließlich vollzieht der Komponist hier eine vollständige Abkehr von allem Weltlichen. Gerhahers Gesang ist nicht genug zu preisen. Er setzt seinen zum Sterben schönen, glatten und doch reichen, leicht ansprechenden Bariton ausschließlich dazu ein, die Nuancen dieser Lieder zu feiern. Bisweilen findet er für einzelne Phrasen einen ganz eigenen Ton.

Bescheidenheit, die sich selbst verleugnet

Dass Gerhahers Begleiter Bernard Haitink merklich einige Passagen langsamer nehmen möchte, trägt zum Aufbau von Spannung bei. Der unendlich erfahrene Mahler-Dirigent Haitink entwirft etwa für „Um Mitternacht“ eine in sich ruhende Atmosphäre der Innigkeit, während Gerhaher zum Ausdruck drängt. Es zeichnet sich um so schärfer konturiert das Bild eines Menschen in völliger Abgeschiedenheit. Und in „Liebst Du um Schönheit“ wirkt das bedächtige Tempo Wunder, da die Melancholie dieses Liedes offenbar wird. Gerhaher und den kammermusikalisch sensiblen BR-Symphonikern unter Bernard Haitink glückt eine tief berührende Deutung dieser Gesänge. 
 
Wenn Haitink das volle Orchester dirigiert, fällt ins Auge, mit welcher fast selbstverleugnerischen Bescheidenheit der mittlerweile 85-Jährige vorgeht. Anton Weberns frühe Idylle „Im Sommerwind“ ersteht vollends organisch aus sich heraus, die unendlichen klanglichen Mittel des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks werden vollständig gehoben, man höre allein auf die Hörnergruppe, die eine immense Kraft für sich darstellt. Auch Dmitri Schostakowitschs erratische 15. Symphonie A-Dur gewinnt durch Haitinks unaufgeregte Geläufigkeit: Er bringt eine gewisse Normalität in die extremen Situationen dieses Werkes, die Schärfe der Komposition wird eher gemildert durch die weichen Blechbläser und die seidigen Streicher des Symphonieorchesters. Dass Schostakowitschs letzte Symphonie die Hörer nicht förmlich herunterzieht, ist das Verdienst Bernard Haitinks.
 
Wer sich hingegen durch die enttäuschenden Neuigkeiten bezüglich des neuen Konzertsaals heruntergezogen fühlt, kann sich ja einmischen. Denn in schwierigen Zeiten muss man für die Kunst eintreten.  
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