Carmina Burana von Carl Orff: Mehr als ein großes Tamtam

Zum 120. Geburtstag von Carl Orff spielen die Philharmoniker am Sonntag seine „Carmina burana“ bei „Klassik am Odeonsplatz“. Orff-Schüler Wilfried Hiller im AZ-Interview über das Werk.
von  Interview: Robert Braunmüller

München - Es ist das weltweit meistgespielte Chorwerk, noch vor Händels Messias. Aber es liegt ein Schatten auf Carl Orffs „Carmina burana“. Komponiert wurde es zwischen 1933 und 1935. Die Uraufführung fand 1937 in Frankfurt stand. Der Komponist, der dem Regime innerlich fernstand, genoss den wachsenden Erfolg und ließ sich hofieren.

Heute vor 120 Jahren wurde Orff in München geboren. Am Sonntag stehen die „Carmina burana“ auf dem Programm von „Klassik am Odeonsplatz“. Krzysztof Urbanski dirigiert die Münchner Philharmoniker und den Philharmonischen Chor. Die AZ sprach mit dem Komponisten Wilfried Hiller über das Werk. Er ist Schüler Orffs und Vorsitzender der Carl Orff-Stiftung.

AZ: Herr Hiller, ist die NS-belastete Feldherrnhalle nicht der falsche Ort für „Carmina burana“?

WILFRIED HILLER: Ich finde nicht. Die „Carmina burana“ haben mit der damaligen Zeit nichts zu tun. Orff komponierte sie aus einer inneren Notwendigkeit heraus, nicht als Auftrag. Die „Carmina burana“ sind eine Verherrlichung der Jahreszeiten und ein Hymnus auf Fortuna, das Glück und die Liebe. Und das in Latein, auf Mittelhochdeutsch und in französisch.

Wie ging es Orff während der Komposition?

Ziemlich schlecht. Er hatte kein Geld, eine Tochter und keine Mutter dazu. Seine Großmutter war Jüdin. Wenn das aufgekommen wäre, hätte er große Schwierigkeiten bekommen.

Hat sich das in der Musik niedergeschlagen?

Andrew Kohler, ein amerikanischer Musikwissenschaftler, schreibt ein Buch über Orffs Werke dieser Zeit. Er hat herausgefunden, dass der erste Takt der „Carmina burana“ den dritten Akt aus Alban Bergs „Wozzeck“ zitiert. Und zwar die Stelle, in der die Hauptfigur ins Wasser geht. Die folgenden Takte sind aus der „Klage der Ariadne“ von Monteverdi, die Orff in den 1925 bearbeitet hat. In seiner Fassung beginnt sie mit dem Text „Zu Ende geht nun alles“. So fühlte sich Orff damals: auf dem Rad der Fortuna ganz unten.

Wenn man mit einem Historiker spricht, erfährt man, dass die Verherrlichung der „gesunden“ Erotik in den „Carmina burana“ genau in die Sexualpolitik der NS-Zeit passt.

Diese Zusammenhänge habe ich noch nicht bedacht. Die eigentlich erotischen Werke Orffs sind die „Catulli carmina“ und der „Trionfo di Afrodite“. „In trutina“, die Liebesszene in den „Carmina“, ist ein Blues. Das „Dulcissime“ wird von einem liegenden Akkord begleitet: dem Akkord der Rosenüberreichung aus dem „Rosenkavalier“ von Richard Strauss. Noch eine Verneigung vor einem Komponisten, den Orff sehr verehrte.

Ohrenfälliger ist allerdings die Nähe zu Strawinskys „Les noces“ aus dem Jahr 1923.

Orff hat schon unabhängig von Strawinsky in „Tanzende Faune“ mit mehreren Klavieren gearbeitet, die wie Schlagzeug verwendete werden. Das lag damals in der Luft.

Es gibt nicht wenige Leute, die dem Suggestiven der Musik Orffs misstrauen.

Ich lasse mich lieber gefangen nehmen, als mich auf hohem Niveau zu langweilen.

Hat Orff in der Zeit, als Sie sein Schüler waren, über die NS-Zeit gesprochen?

Nein. Niemals.

Hat er erklärt, warum er 1939 eine Musik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ komponierte, die den verfemten Mendelssohn Bartholdy ersetzen sollte – was sogar Hans Pfitzner ärgerlich von sich wies?

Nein. Auch nicht.

Wie haben Sie Orff kennengelernt?

Ich hatte Kurse bei Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen in Darmstadt hinter mir. Und ich bekam zunehmend das Gefühl, dass das nicht der Weg ist, den die Neue Musik zu gehen habe. Dann spielte ich 1969 als Schlagzeuger in Orffs „Prometheus“ im Nationaltheater. Noch in der Nacht nach der Premiere habe ich ihm geschrieben. Dann wurde ich sein Schüler.

Wie stand Orff zur Avantgarde?

Er hatte viele Partituren von Stockhausen, Ligeti oder Penderecki bei sich zu Hause und studierte sie ganz genau.

Was bleibt von Orff – außer den „Carmina burana“?

Er steht als erratischer Block in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Außenseiter. Er hat sich als einer der Ersten für afrikanische und ostasiatische Musik interessiert und exotische Schlaginstrumente verwendet. Jazz mochte er auch sehr.

Wie war Carl Orff als Mensch?

Er war ein Magier. Wenn er einen Raum betrat, war er plötzlich im Zentrum. Auch die Frauen standen auf ihn. Ich habe ihn mal gefragt, wie das auf der Gymnastik-Schule war, wo er lange Musik unterrichtete. „Die waren doch alle lesbisch“, sagte er. Ich bin sicher, er hat auch die lesbischen Frauen gekriegt.

Warum wurde „Carmina burana“ so erfolgreich?

Eine Freundin von mir spielt den Chor „O Fortuna“ auf der Solo-Violine. Sogar in dieser Besetzung wirkt das Stück.

Hatte Orff eine Lieblingsaufnahme?

Ich habe mit ihm einmal eine Reihe neuer Aufnahmen angehört. Die meisten legte er nach dem ersten Takt weg: Er ärgerte sich über den Tamtam-Schlag, der nicht in den Noten steht. Viele Dirigenten sind von ihrer Interpretation der Wiederholung des „Fortuna“-Chors am Ende so angetan, dass sie ihn vom Toningenieur an den Anfang kleben lassen. Sie vergessen, den Schlag auf das Tamtam rauszuschneiden, der nur am Ende vorkommt.

Was halten Sie von der Aufnahme des Dirigenten Jos van Immerseel mit Instrumenten aus Orffs Zeit?

Sie ist fantastisch. Für mich die beste Aufnahme bisher, weil Immerseel mit dem Kopf dirigiert. Der Chor ist klein. Die Besetzung orientiert sich an den Bedingungen der dreißiger Jahre. Man braucht keine 120 Sänger für die „Carmina burana“.

Wie stand Orff selbst zu den „Carmina burana“?

Ihn freute der internationale Erfolg. Aber er hielt die Griechendramen „Antigonae“, „Oedipus der Tyrann“ und „Prometheus“ für seine besten Stücke.

Warum werden die heute nur sehr selten gespielt?

Orff hat keine Kompromisse gemacht. Diese Werke sind schwer aufzuführen. „Prometheus“ erfordert 23 Schlagzeuger, vier Klaviere und 8 Kontrabässe. Das Spätwerk kommt wieder, da bin ich sicher. Die Ruhrtriennale hat 2012 „Prometheus“ gespielt, Vladimir Jurowski hat das Werk in Moskau dirigiert. Auf russisch.

Warum hat die Orff-Stiftung die Festspiele in Andechs platzen lassen?

Das war eine Frage der Qualität. Es wurde manches umgebracht, das eigentlich nicht umzubringen ist. Marcus Everding kommt vom Schauspiel her. Er hat viel mit Laien gearbeitet und da draußen eine Art Orff-Laienbühne entwickelt. Das ist Orff nicht angemessen. Außerdem ist der Florian-Stadl für das Spätwerk zu klein.

„Carmina burana“, So., 20 Uhr, Odeonsplatz, Restkarten.
Die CD unter Jos van Immerseel mit dem Collegium Vocale Gent bei ZigZag Territories.
Das Orff-Zentrum feiert am 14. Juli sein 25-jähriges Bestehen: 19 Uhr, Max-Joseph-Saal. Es spricht Ex-Kultusminister Hans Maier (Karten: Tel. 54 81 81 81).
Die Andechser Orff-Festspiele dauern noch bis 26. 7. Aufgeführt wird „Die Kluge“, www.carl-orff-festspiele.de

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