BR-Symphonieorchester: Ernste Scherze im Anthropozän

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Mozart und Neuer Musik im Gasteig und im Herkulessaal.
Robert Braunmüller
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In der Neuen Musik kann alles zum Instrument werden: Furzkissen in verschiedener Größe nebst einer Autohupe und einer Bürste auf dem Tischchen eines Schlagzeugers des BR-Symphonieorchesters im Konzert der musica viva.
In der Neuen Musik kann alles zum Instrument werden: Furzkissen in verschiedener Größe nebst einer Autohupe und einer Bürste auf dem Tischchen eines Schlagzeugers des BR-Symphonieorchesters im Konzert der musica viva. © Astrid Ackermann

Am Mittwoch gab das Kunstministerium in seiner Weisheit bekannt, der sogenannte Pilotversuch mit 500 Besuchern in der Staatsoper und im Gasteig werde bis Mitte Oktober weitergeführt.

Erst zu diesem Zeitpunkt konnte der Bayerische Rundfunk beginnen, zweimal je 300 weitere Karten für die beiden Konzerte seines Symphonieorchesters unter Leitung François-Xavier Roth am Samstag um 18 und 20.30 Uhr zu verkaufen. Wer auch nur ein wenig mit dem Geschäft vertraut ist, dürfte wissen, dass dies unmöglich ist, zumal es derzeit im Gasteig auch keine Abendkasse gibt.

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Der künstlerische Etat ist maßgeblich vom Kartenverkauf abhängig

Aus den Folgen solcher politischen Schnellschüsse dann aber abzuleiten, dass das Publikum derzeit übervorsichtig wäre und sowieso keine Lust auf das Verlassen der heimischen Wohnung habe, wie derzeit auch Kunstminister Bernd Sibler öffentlich fabuliert, ist fahrlässig und stiftet nur Verunsicherung.

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und die Münchner Philharmoniker können es sich zwar eine Zeit lang leisten, auch vor wenigen Zuschauern zu spielen. Aber man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass das besonders lange funktioniert, denn der künstlerische Etat ist auch bei diesen Orchestern maßgeblich vom Kartenverkauf abhängig.

Musikalischer Wortwechsel mit ernsten Momenten

Ärgerlich ist die Sache auch deshalb, weil von einem wirklich herausragenden Konzert zu berichten ist. Denn der Generalmusikdirektor der Stadt Köln und Principal Guest Conductor des London Symphony Orchestra beherrscht das Allerschwierigste: Er versteht sich auf Mozart.

Im zweiteiligen Hauptthema des ersten Satzes der Jupiter-Sinfonie antwortet die Streicherfigur verhalten auf die Akkordschläge des ganzen Orchesters. Und auch der Rest vollzieht sich in einem musikalischen Wortwechsel ähnlich wie in "Don Giovanni" oder einer anderen Opera buffa Mozarts mit ernsten Elementen.

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Die Streicher des BR-Symphonieorchesters brachten Mozart in den beiden Sinfonien KV 543 und 551 ohne Vibrato zum natürlichen Leuchten. Roth orientiert sich zwar am historisch informierten Stil, setzt ihn aber individuell und unforciert dramatisch um. Das wurde besonders deutlich in den langsamen Sätzen, bei denen sich sonst leicht einmal gepflegte Blässe breitmacht.

BR-Symphonieorchester: Erstklassiges Ensemble für Neue Musik

Beide Symphonien wurden in der zweiten Aufführung am Samstag heftig und mit Bravorufen bejubelt. Das Publikum schloss auch Anton Weberns Konzert für neun Instrumente ins Herz, das zwischen den beiden Mozart-Sinfonien vermittelte. Die Musiker versuchten nicht, letzte Reste spätromantischer und impressionistischen Stimmungswerte hervorzukehren, sondern spielen das Werk so klar, kristallin und mit radikaler Genauigkeit, wie dieser Gruß zum 60. Geburtstag von Arnold Schönberg gemeint ist.

Im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks steckt eben auch ein erstklassiges Ensemble für Neue Musik. Diese Stärke wurde am Freitag in zwei Konzerten der musica viva im Herkulessaal ausgespielt. Yann Robins "Art of Metal" für Kontrabassklarinette und Orchester verband den scharrenden Klang des Soloinstruments mit anderen Geräuschen.

Liza Lims "Extinction Events and Dawn Chorus" handelte vom Ende des Anthropozäns und der Umweltverschmutzung. Die Komponistin löst schroffe Bläser-Klänge im exzessiven Gebrauch des auch als Rummelpott bekannten Waldteufels auf. Im Mittelsatz tritt eine dieser mit einer Schnur durchzogenen Trommeln vergeblich gegen einen sehr ernsthaft aufspielenden Violinvirtuosen an. Der Auftritt eines in eine Plastikfolie gehüllten Schlagzeugers mochte als Kritik an der Vermüllung der Meere gedacht sein, wirkte aber mehr wie eine Etüde über etwas, was es kaum gibt: Humor in der Neuen Musik.

Corona zum Trotz: Orchester holt das Maximale aus der schwierigen Situation heraus

Daneben dirigierte Peter Rundel gewohnt kompetent bläserbetonte Ensemblestücke von Giacinto Scelis ("I Presagi"), Luciano Berio ("Naturale") und Iannis Xenakis ("Jalons"). Den stärksten Eindruck hinterließ die zeitlos schöne Bratschenkantilene von Morton Feldmans "The Viola in My Life 2" mit Antoine Tamestit.

Für beide Konzerte warb übrigens am Freitag ein Jingle auf BR Klassik mit dem Hinweis auf Restkarten an einer Abendkasse. Die bleibt derzeit aber geschlossen. Corona stellt auch Veranstalter im Moment vor Herausforderungen. Gut, dass sich wenigstens die Musiker nicht beirren lassen. Das BR-Symphonieorchester holte jedenfalls an diesem Wochenende das Maximale aus der schwierigen Situation heraus.


Die nächsten Konzerte der musica viva finden am 6. November um 18 und 21 Uhr statt. Das BR-Symphonieorchester spielt am 8. und 9. Oktober jeweils um 18 und 20.30 Uhr unter Stéphane Denève Werke von Honegger, Berlioz und Strawinsky. Solist ist Christian Gerhaher, einzelne Restkarten bei BR Ticket unter Telefon 089 5900 10880

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