"Blue & Lonesome" - eine Band erfindet sich neu

Das Ende der Selbstkarikatur: Mit dem Studioalbum Nummer 23 „Blue & Lonesome“ kehren die Stones nach langer Pause zu ihren Wurzeln zurück
Dominik Petzold |
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Geballte Lebens- und Musikerfahrung: Mick Jagger und Keith Richards im Studio für „Blue & Lonesome“.
Universal Geballte Lebens- und Musikerfahrung: Mick Jagger und Keith Richards im Studio für „Blue & Lonesome“.

Im Jahr 1962 ist Adenauer Bundeskanzler, Franz Beckenbauer spielt in einer Münchner Jugendmannschaft, im Kino läuft „Lawrence von Arabien“. Und in London betreten die Rolling Stones erstmals die Bühne. An diesem Freitag, 54 Jahre später, bringt die Band ein neues Album heraus. Vor dem Hören muss man sich das erst mal vor Augen führen: wie surreal lang Mick Jagger, Keith Richards und Charlie Watts das jetzt schon machen.

So lange schon, dass sich mittlerweile gar niemand mehr die Frage stellt, ob eine Rolling Stones-Tour nun endgültig die letzte sei. Vor zwanzig Jahren stand die Frage bei jedem Konzert im Raum. Doch dann tourten sie wieder, und wieder, und wieder, und wurden so allmählich zur Institution jenseits aller Zeit: immer schon da gewesen, womöglich für alle Zeiten da. Heute wundert sich kein Mensch mehr, dass ein 73-jähriger auf der Bühne klagt, keine Befriedigung zu finden.

Doch nun erscheint „Blue & Lonesome“. Und plötzlich verorten sich Mick, Keith und die ihren doch wieder konkret in der Zeit. Freilich nicht in der heutigen, sondern eben in den frühen Sechzigern, als alles los ging. Sie gehen einfach noch mal über Los, spielen wieder den Blues von Howlin’ Wolf, Little Walter, Willie Dixon oder Jimmy Reed, und sie spielen ihn genauso wie damals, als sie noch echte Blues-Puristen waren, als ihre eigenen großen Songs noch in weiter Ferne waren.

Alles über Bord!

Und auf einmal, nach so vielen Jahren, klingen sie wieder großartig. Jahrelang taperten sie irgendwo zwischen Wiederholung und Selbstkarikatur über die Bühnen. Jetzt haben sie alles über Bord geworfen – und dabei zurück zu sich selbst gefunden.

Das Songwriting-Team Jagger / Richards macht Pause und verzichtet auf neue (mittelmäßige) Lieder. Die Backgroundsängerinnen und Bläser, die bei Stones-Konzerten einen großen Teil des Sounds ausmachen, mussten draußen bleiben, auch die beiden Keyboarder hört man meist nur im Hintergrund. Diese Musik zeigt die Stones – die drei Gründungsmitglieder, den in den Siebzigern dazugekommenen Ronnie Wood plus Live-Bassist Darryl Jones – in ihrer ursprünglichen Form. Produzent Don Was drückte im Londoner Studio auf Aufnahme, die Stones spielten zwölf uralte Blues-Nummern und bearbeiteten den Sound danach kaum.

Und der ist erstaunlich nah an dem Sound der Brian Jones-Stones der frühen Sechziger, also roh und absolut eigen: Etwas rumpelig, aber auch mit Swing, mit scharfen Gitarren, die sich umkreisen und ergänzen, meist scharfe, manchmal gefühlige Licks raushauen – und niemals dudeln (auch Eric Clapton beugt sich bei zwei Gastauftritten der Gruppendisziplin). Und darüber entfaltet sich Mick Jagger, wie man das seit langem nicht gehört hat.

Weg mit dem Mumpitz!

Der hatte sich über die Jahre eine seltsam gequetschte Gesangstechnik angeeignet. Die ließ auch Keith Richards verzweifeln. In seiner Autobiographie „Life“ lästerte er: Seit Jagger Gesangsunterricht genommen habe, könne er nicht mehr singen. Doch im Angesicht von Howlin’ Wolf und den anderen Vorbildern, vor denen sich Mick Jagger hier verbeugt, lässt er all den Mumpitz. Er singt wieder wie in den Sechzigern.

All die albernen Manierismen sind weg, er röhrt an den richtigen Stellen, singt voller Autorität und Leidenschaft, mit toller Phrasierung. Und der Musik-Enzyklopädist Don Was hat ihm genau den richtigen Grad an Verzerrung und Hall auf die Stimme gelegt. Großartig ist auch Jaggers Mundharmonika-Spiel, das sonst zu wenig Raum bekommt. Einen besseren Mundharmonika-Spieler als Jagger gebe es nicht, auch das schrieb Keith Richards in seinem Buch – und „Blue & Lonesome“ liefert ihm Argumente.

Zum Beispiel die wilden Soli bei „I Gotta Go“, halb Blues-Pentatonik, halb heißer Atem. Bei Howlin’ Wolfs „Commit A Crime“, einem Ein-Akkord-Blues, kreist Jaggers Mundharmonika fieberhaft um einen Ton, außenrum spielt eine Gitarre wieder und wieder dasselbe unwiderstehliche Lick. Und zu Beginn kommt Charlie Watts’ Eigenheit, niemals Snare und Hi-Hat gleichzeitig zu schlagen, besonders zur Geltung. Der besondere Stones-Sound, den keine Band je wirklich imitieren konnte, in all den Jahren seit 1962: Hier ist er zu hören.

Rolling Stones: „Blue & Lonesome“ (Polydor/Universal)

 

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