Biografie über Paul McCartney: Der definitive Standpunkt

London - Seit seiner "Beatles"-Biografie "Shout" (1980) steht Philip Norman bei Fans unter Verdacht, Pro-Lennon und Anti-McCartney zu sein. Er hatte damals behauptet, John Lennon sei Dreiviertel der Beatles. Knapp vier Jahrzehnte und ein Dutzend Bücher später revidiert der Musikjournalist in seiner neuen McCartney-Biografie das alte Vorurteil.
AZ: Mr. Norman, Sie haben Biografien über John Lennon und Paul McCartney geschrieben. Jetzt fehlen noch ihre Bücher zu George Harrison und Ringo Starr.
PHILIP NORMAN: Oh, nein! Ich könnte nicht noch einmal durch das Ganze hindurch: Liverpool in den Nachkriegsjahren, akribische Recherche zum Alltagsleben damals. Und all die unzähligen Einzelheiten über George: Das wäre wie der dritte Band zum Aufstieg und Fall des Römischen Reiches. Und eine Bio über Ringo würde zu dünn ausfallen. Ringo war zwar sehr wichtig für die anderen drei. Aber sein Talent war begrenzt. Wenn man allerdings von sehr talentierten Menschen umgeben ist, dann färbt etwas ab.
Porträtieren Sie jetzt einen der fünften Beatles? Den Produzenten George Martin oder den Manager Brian Epstein?
Nein, aber im Dezember 1969 begleitete ich Eric Clapton und Delaney und Bonnie Bramlett auf ihrer Tour. Eric war auch bei der Plastic Ono Band und wurde davor schon als möglicher Ersatz für George Harrison gehandelt, als dieser 1968 die Nase von den Beatles voll hatte. Das Beziehungsnetz zwischen Eric und den Beatles war sehr eng. Auf der Bühne stand im Hintergrund ein bärtiger Gitarrist in Jeans und Hirschlederjacke. Das war George Harrison. Die Beatles waren ja in Auflösung und Eric hatte George bei seiner vielköpfigen Band Asyl gewährt, damit George sich wieder an Live-Auftritte gewöhnen konnte. Das wird die Einleitung für meine Clapton-Biografie, die im Herbst 2018 erscheinen wird. Eric weiß Bescheid und freut sich. Ihm ist klar, dass er in seiner Autobiografie sehr viel vergessen und weggelassen hat. Ich konzentriere mich auf die Berührungspunkte mit den Beatles und den Stones. Es wird ein Buch über den Blues, nicht über den Rock’n’Roll. Ich nehme am Beispiel Erics das musikalische Phänomen unter die Lupe, das so viele junge britische Musiker damals faszinierte.
Paul hatte dank seines Vaters noch viele andere musikalische Einflüsse, die besonders auf "Sgt. Pepper" zum Ausdruck kommen. War Paul der talentierteste der Fab Four?
John und Paul waren Ausnahmeerscheinungen. Ihr Verhältnis war symbiotisch und führte zu vielen Meisterwerken. John hat die Band gegründet, hat ihr den Namen gegeben, aber bei der Konzeption von Sgt. Pepper war Paul der Motor.
Auch wenn John sich scherzhaft Sgt. Lennon nannte?
John strahlte ein immenses Selbstvertrauen aus. "A Day In The Life" geht hauptsächlich auf ihn zurück. Aber ich hätte nie gedacht, dass Paul heute ein so unsicherer Mensch ist. Paul ist charmant, schaut gut aus, ist unglaublich wohlhabend und besitzt viele Fähigkeiten: Er hat schon Maurerarbeiten selbst erledigt, er ist ein hervorragender Koch und tut noch vieles andere, was Rockstars nicht können. Die Tatsache, dass er immer noch viele Nächte im Jahr auf der Bühne steht, zeigt, dass er sich immer noch beweisen muss. Als ich ihn 2015 in Liverpool sah, spielte er drei Stunden lang.
Aber Sie haben das Konzert vorzeitig verlassen. Warum?
Warum nicht? Ich gehe selten zu Rockkonzerten. Ich fand, dass acht Songs von Paul reichen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Unsicherheiten von Paul haben mit echtem Talent zu tun. Es sind nur mittelmäßige Künstler, die ihr Werk großartig finden. Echtes Talent ist nie zufrieden. John ließ nichts gelten von dem, was er geleistet hatte.
Er hat nachträglich sogar "Imagine" schlecht gemacht.
Stimmt, "Imagine" ist ja gar kein so großartiger Song. Die Reime sind furchtbar. Die hätte ihm Paul niemals durchgehen lassen. Die beiden haben sich angestachelt und zu Höchstleistungen angetrieben. ‚No religion too‘. Was soll das?
Wann haben Sie Ihr Urteil über Johns Bedeutung für die Beatles revidiert und Paul aufgewertet?
Das Dreiviertel-Statement war sehr dumm von mir. Mit dem Verfassen der Biografie über John änderte sich allmählich mein Bild von Paul. Jetzt habe ich den definitiven Standpunkt gefunden. John und Paul konnten in die Seele des jeweils anderen schlüpfen. Der eine beendete den Song, den der andere angefangen hatte. In „Shout“ vertrat ich noch die Ansicht, dass John der harte, experimentierfreudige Avantgarde- und Paul der süße Mainstream-Typ war. In Wirklichkeit war Paul viel mehr Avantgarde als John. Paul tüftelte mit Tape Loops schon vor John. Das von George Martin geprägte Bild von John als saurer Zitrone und Paul als mildem Olivenöl stimmt nur bedingt. „Why Don’t We Do It In The Road“ oder „Helter Skelter, das ist Paul. Und John konnte die softesten Balladen schreiben. Aber das Publikum ist verliebt in die Vision eines liebenswürdigen Paul, eines höflichen Mannes und es pflegt ebenso den Kult um John als Hardcore-Rocker in schwarzer Lederjacke.
Wie müssen wir uns die beiden in Wirklichkeit vorstellen?
John, außen hart, innerlich verletzlich, Paul außen süß innerlich hart – dieser Unterschied besteht tatsächlich und hängt mit deren Kindheit zusammen. Paul hatte eine vergleichsweise behütete Kindheit, John eine schwierige. John wurde von Vater und Mutter verlassen. Er litt keine materielle Not, aber er fühlte sich isoliert. Pauls Mutter starb, als er 14 war. Sein Vater war nicht wohlhabend, aber er pflegte engen Kontakt zu einem großen Familienkreis. Paul erlebte daher eine Geborgenheit, die John verwehrt blieb. John und Paul waren gegenteilige Charaktere, die aber gemeinsam unglaublich gut auskamen.
Führte das zu den unterschiedlichen musikalischen Leistungen von John und Paul nach dem Ende der Beatles?
Es ist ein weiteres Missverständnis, Paul habe nach der Trennung nur noch Gefälliges und Kommerzielles komponiert. Es gibt Perlen im riesigen Solo-Werk Pauls, das seit 1970 entstanden ist. Er war und ist ein guter Songschreiber. Mit den Wings sind phantastische Lieder entstanden, die oft übersehen werden, wie beispielsweise "Dear Friend" von 1971. Wenn John gewusst hätte, dass dieser Song existiert, hätte er das furchtbare "How Do You Sleep" nie geschrieben.
Der Schlagabtausch Anfang der 1970er Jahre war grausam.
Pauls Sticheleien auf dem Album "RAM" im Frühling 1971 waren noch harmlos. Im Song "Too Many People" macht Paul Anspielungen auf John und das Ende der Beatles, wie er es schon in "Another Day" gemacht hatte. John aber antwortet mit einem Nuklearschlag. "How Do You Sleep" beginnt mit einer Orchesteratmosphäre wie auf Sgt. Pepper. Dann geht das Gemetzel los – textlich..
Ein Kollege von Ihnen schrieb, die Geschichte der Beatles könne als Geschichte des britischen Klassensystems gelesen werden.
Es tut mir leid, aber Snobismus ist ein universelles Phänomen. Deutschland hatte seine Aristokratie, auch wenn vielleicht nur wenig davon übrig ist. Die Beatles waren eine Zweiklassen-Band. John und Paul trafen sich sozial gesehen in der Mitte. Sie waren die Köpfe der Band. George und Ringo hingegen waren Working Class.
Stellen Sie sich manchmal vor, John wäre noch am Leben?
Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass John und Paul wieder gemeinsam Musik machen würden. Ich vermute zudem, dass Johns Stimme heute einen besonderen Stellenwert einnehmen würde. Er würde Hörbücher einsprechen oder ähnliches. Das Beste an der "Magical Mystery Tour" sind Johns Voice-Over-Passagen.
Ein Credo unter Journalisten lautet: Schreib nie eine autorisierte Biografie. Ihr McCartney-Buch ist mit "stillschweigender Zustimmung" Pauls entstanden. Was bedeutet das?
Während der Vorbereitungen zu meinem Lennon-Buch schrieb ich einen Brief an das McCartney-Management und teilte nur mit, dass es nicht Anti-Paul werden würde. Eines Nachmittags ging das Telefon: "Hello, it’s Paul." Wir unterhielten uns etwa eine halbe Stunde, und am Ende fragte ich ihn, ob er später einige Fragen zu John beantworten würde. Das geschah dann via E-Mail. Auf ähnliche Weise habe ich Pauls stillschweigende Zustimmung für das Buch über ihn bekommen. Keines meiner Bücher wurde jemals zensiert oder nachträglich bearbeitet.
Vielleicht wissen Sie jetzt mehr über Pauls Leben als er selbst.
Ja, das stimmt. Ich hatte einen unschönen Gedanken: Nach alle den Monaten und Jahren, in denen ich Informationen über Paul gesammelt und interpretiert hatte, könnte alles falsch sein. Als ich ihn dann aber nach etlichen Jahren wieder sah, war er wie eine Romanfigur, die mir plötzlich in Fleisch und Blut gegenüberstand und es fühlte sich richtig an.