Bill Wyman, der Mann aus der Steinzeit
Ein Anruf in einem Hotel in Amsterdam. Hier ist er unter einem Tarnnamen abgestiegen. Er meldet sich mit einem zaghaften „Hello”. Lässt sich den Namen des Interviewers buchstabieren. Schließlich, so wird er später sagen, wolle man ja in seine Biografie eintauchen. Übervorsichtig? Na ja, es gibt unwichtigere Musiker als den ehemaligen Stones-Bassisten Bill Wyman. Am Sonntag spielt er ab 20 Uhr mit seinen Rhythm Kings im Circus Krone.
AZ: Mr. Wyman, Sie haben ab 1955 bei der Royal Airforce in Oldenburg gedient. Die ersten Eindrücke?
BILL WYMAN: Ich sah viele Kriegsschäden. Das war schon ein Schock. Die Deutschen fand ich sehr freundlich, habe mit zwei Zivilisten im RAF-Camp gearbeitet, und mit einem befreundete ich mich.
Die amerikanischen Militärradio-Stationen sollen Ihr Musikfeuer entfacht haben.
Die Amerikaner waren in Bremen. Dort sah ich große Bands und begann die neuen 45er zu kaufen. Den Anfang des Rock’n’Roll mit Elvis Presley, Fats Domino.
Haben Sie die noch?
Ich wurde auf einer Amerikatour ausgeraubt. Sie haben alle meine Platten gestohlen. Ich habe sie mit späteren Ausgaben ersetzt. Aber es war ein großer Verlust.
Beleben die Rhythm Kings die Geschichte wieder?
Alles, was ich mit den Rhythm Kings mache, ist, schöne Jams der Vergangenheit zu finden, Songs von Billie Holiday, Ray Charles, sie etwas zu modernisieren, aber die Essenz zu behalten. Ich habe das Glück, fünf bis sechs Sänger in der Band zu haben, die ihren eigenen Stil haben. Deswegen können wir so einen Mix covern.
Als Sie 1962 bei den Stones vorspielten, schuf die Bluesliebe eine gemeinsame Basis?
Damals hatte ich ja gar keine Ahnung von Blues. Es gab keine Bluesplatten zu kaufen. Die Bands spielten Popmusik. Es war auch kein Vorspielen, sondern eine Probe. Zuerst war mir die Musik echt fremd. Ich fand es anfangs langweilig. Es war etwas langsam. Die schrieben 12-Takt-Bluesnummern. Ich fand das etwas komisch, konnte aber eine Verbindung herstellen, weil ich Chuck Berry und Fats Domino kannte, die mit einem Bluesgeschmack spielten. Als Charlie einen Monat später dazukam, rastete alles ein.
Was ist denn das blueslastigste Album der Stones?
Wahrscheinlich die frühen. Wir haben uns aus dem Blues entwickelt. Als wir aus den Clubs in die Theater und die Ballrooms gingen, da mussten wir unseren Stil etwas in Richtung Rhythm’n’Blues verändert. Dann entwickelten wir uns zum Rock, und als es in die Stadien ging, zum Heavy Rock. Wir mussten das machen, um populär zu bleiben, und es hing mit der Größe der Auftrittsorte zusammen. Wenn ich jetzt mit den Rhythm Kings spiele, ist das Publikum nur zwei Meter entfernt, und sie können deinen Schweiß sehen.
Haben die Stones in den Stadien den Kontakt zum Publikum verloren?
So fühle ich das. Die 90000 Menschen da draußen sind Stecknadeln. Alles, was du sahst, war, was der Kameraman auf die Leinwand brachte. 80 Prozent Mick and Keith, ein paar Bilder von Ronnie, und dann vielleicht ein, zwei von Charlie und mir. Da ging viel verloren, auch im Sound oder der Wärme.
Haben Sie jemals bereut, die Stones verlassen zu haben?
Nicht eine Minute. Ich war nie glücklicher. Ich habe eine neue Familie, bin wieder verheiratet. Habe drei Teenager-Töchter, habe mehrere Bücher geschrieben, habe ein Restaurant. Und ich interessiere mich für Archäologie und mache Fotoausstellungen.
Was haben Sie denn für archäologische Interessen?
Geschichte zu finden. Das ist auch Teil eines Buches. Ich habe viele interessante Sachen in der Gegend, wo ich in England ein Haus habe, entdeckt. Mein Haus ist von 1480, ein Herrenhaus, und hatte einen Graben, mit einer Zugbrücke. Seit vielen Jahren schreibe ich diese Geschichte, habe eine römische Siedlung im Dorf entdeckt, über dreihundert Münzen gefunden und Broschen, Amreifen, Ringe... Ich habe Sachen aus der Bronzezeit ausgegraben, Dinge der Angelsachen und seltene Münzen der Eisenzeit.
Scheint, als seien Sie einer, der Momente bewahren will.
Ich wuchs im Krieg mit den Luftangriffen auf, ging mit einer Mickey-Mouse-Gasmaske zur Schule. Wir wurden zweimal aus unserem Haus gebombt. Ich begann kleine Dinge in ein Notizbuch zu schreiben. Ich durchlebte den Krieg mit meiner Großmutter, machte kleine Bücher, wo ich Dinge aus Zeitungen und Magazinen ausschnitt. Das habe ich alles behalten, bis ich zum Militär ging. Als ich aus Deutschland auf Urlaub kam, hatte meine Mutter alles weggeworfen. Sie dachte, das wäre Kinderzeug. Das habe ich sehr bedauert, stark auch in jüngster Zeit. Nach dem Militär begann ich wieder zu schreiben. Ich musste mein Leben neu erinnern.
Ordnet man so sein Leben?
Es hilft mir, Bücher zu schreiben, weil ich die Daten ordentlich zusammenkriege. Das passiert ja nie, wenn Menschen über die Stones schreiben. Sogar wenn Keith Richards und Ronnie Wood Bücher schreiben – die Hälfte ist erfunden. Aber es gibt ja den alten Spruch: Lass’ die Wahrheit nie eine gute Geschichte zerstören. Die Wahrheit ist halt viel einfacher und normaler. Aber Keith und Ronnie verkaufen viele Bücher, und meine verkaufen sich nicht so gut. Meine sind nicht so sensationell. Aber ist ja egal.
Gibt es einen Moment in Ihrem Leben, den Sie gerne nocheinmal durchleben würden?
Oh Gott, das ist schwer... Ja, ich würde gerne nochmal die Tage in Oldenburg erleben, als ich zum ersten Mal diese Musik hörte, in die Stadt rannte und die erste akustische Gitarre kaufte – und Würstchen mit Pommes aß. Die schmeckten so viel besser, als alles, was ich je in England hatte. Von meiner Geburt bis 1953 waren wir rationiert. Deswegen waren wir alle auch klein. Das ist meine Theorie. Die Stones sind klein, die Kinks sind klein, die Beatles sind klein. Ich hatte auch noch nie so ein Bier probiert. In England war das Bier immer warm. Und ich liebte es, Fußball mit dem Kumpel zu spielen, von dem ich meinen Namen übernahm: Billy Wyman. Das war mein bester Freund. Diesen Sommer ist er zu einem Konzert der Rhythm Kings gekommen.