Benjamin Clementine: Löwen und seltsame Fische
Es ist ein weiter Weg von den Pariser Metros und Gässchen, wo Benjamin Clementine als armer Zwanzigjähriger seine Musik spielte, hin zur Hamburger Elbphilharmonie, wo er, nun 28-jährig, seine Deutschlandtournee begann, die ihn nun in die Philharmonie führte. Aber der Brite ghanaischer Herkunft, geboren und aufgewachsen in London, dann in Frankreich, hat es geschafft, mit einer ausdrucksstarken Stimme und zwei Alben, in denen sich vielerlei Einflüsse – Pop, Jazz, Gospel, Klassik im Stil von Satie und Debussy – eigenwillig vermischen.
Bühne als Schauplatz einer schillernden Performance
Theatralisch klingt diese Musik, der Kunstanspruch ist hoch. Clementine gibt sich selbstbewusst als Avantgarde und bastelt dementsprechend an seinem Sound weiter. Sein aktuelles Album "I Tell a Fly" hat er als Theaterstück geschrieben, um letztlich doch auf Musikbühnen aufzutreten. Die er aber zum Schauplatz einer vibrierenden, schillernden Performance macht, in der man bald mit einer Gespanntheit drin sitzt, als ob man einem großen Drama – oder einer irren Komödie – beiwohnt.
Wie ein Bühnenbild wirken die weißen, unbekleideten Plastiken, die um die Instrumente drapiert sind, vor allem sind es Kinderfiguren und Figuren von schwangeren Frauen. In dieses Mannequin-Szenario schreitet Clementine, barfuß, als ob er von seinen Zeiten als Obdachloser in den Straßen von Paris direkt hierhergekommen ist, in einem blauen Overall. Vor dem Mikro steht er erstmal in der Stille, hält sie aus, um dann allein seine Stimme erklingen zu lassen, die durch Mark und Bein geht, mal einnehmend warm, dann schneidend hart.
Immer wieder wechselt Clementine mit seinen beiden Begleitern, einem E-Bassisten und einem Drummer, mitten im Song die Tonart, den Rhythmus, gleitend, abrupt, tupft süße Satie-Klänge hin, springt herb in den Modern Jazz. Eine Knabenplastik nimmt er zu sich, besingt sie mit "One awkward fish", geht mit ihr im Arm ins Dunkel, stellt sie zuletzt zentral nach vorne. Mit diesem "ungelenken Fisch" gemahnt er wohl an Flüchtlingskinder, die bei Schiffsüberfahrten ums Leben kamen.
Kultureller und politischer Anspruch der Musik
Genau weiß man es nicht, aber der politische Anspruch des Künstlers macht sich stark bemerkbar. "By the Ports of Europe" erzählt in Tiermetaphern von einem Europa, das die Flüchtlinge nicht haben will, auch wenn es sich eigentlich von diesen nährt: "A free lion is angry, Buffalos are coming" – so klingt Clementine-Poesie. Seine beiden Begleiter entern bei diesem musicalhaften Experimentalsong barfuß und singend die Gänge der Philharmonie, dringen ins Publikum ein. Da kommt jemand zu uns.
Wie er in seiner Schulzeit von anderen Kindern drangsaliert wurde, erzählt Clementine in einer seiner ausufernden Monologe und gibt damit den Rahmen für den Song "Phantom of Aleppoville", in dem er einen Bogen vom selbst erlebten Mobbing zu den Traumata von Kindern in Kriegsgebieten spannt. Der Schmerz ist die Wurzel fürs kreative Schaffen, keine Frage. Wieviel da echt und wieviel Pose ist, lässt sich schwer ausmachen. Mitreißend ist es allemal. Clementine gibt sich als Fremder, der sich nach Liebe sehnt, als Entertainer, der davon erzählt, wie er nach seinem Auftritt in der 700 Millionen teuren Elbphilharmonie nichts zu essen bekam und mit seiner Band draußen ein mieses Sandwich aß.
Die Botschaft: Das Geld fließt in die Kultur, während andere hungern? Im Zugaben-Block spielt er seinen zugänglichsten Hit, "London", und animiert das Publikum zum Mitsingen. Die Plastiken, die er um sich herum versammelt hat, verkörpern für ihn die Zeit, erklärte er. Du kannst sie noch so ansprechen, sie reagieren nicht. Dank Clementine stand die Zeit zwei Stunden still. Standing Ovations fürs Gesamtkunstwerk.
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