Befreiungs-Anschlag
Sergej Rachmaninows Klavierkonzerte umweht etwas unangenehm Therapeutisches. Der unselige David Helfgott („Shine – Der Weg ins Licht) verstand Aufführungen der Nr. 3 als Therapie gegen eine schizoaffektiven Störung. Sogar der Komponist selbst heilte sich mit der Nr. 2 von einer Depression. Da geht man mit eher gemischten Gefühlen zu einer Aufführung mit einem Blinden am Klavier ins Gasteig.
Alle diese Bedenken verfloggen, als Nobuyuki Tsujii zu spielen begann. Der von Geburt an blinde Japaner steigerte die Glockentöne mächtig und stürzte sich mit viel Energie in den Kopfsatz des c-moll-Konzerts. Spätestens ab dem Beginn des schnellen Teils beeindruckte nicht mehr allein die phänomenale Gedächtnisleistung, sondern vor allem seriöse, jeden Hauch von Varieté meidende Interpretation. Tsujiis Anschlag ist eher hart, fast perkussiven Anschlag: Das schadet bei Rachmaninow nie – weil ein eher distanzierter Klavierklang die Musik vor der unseligen Breitwand-Steppentrauer befreit.
Passend dazu wählte Tsujii eher forsche Tempi. Er verlangsamte Lyrisches nicht übermäßig und spielte gefühlsbetont, aber nicht gefühlig. Auch die Münchner Symphoniker unter dem bisher eher als Gruberova-Begleiter bekannten Dirigenten Andriy Yurkevych enthielten sich der weichgespülten Süßlichkeit. Aber sie wurden leider bei den Fortissimo-Konfrontationen zwischen Solist und Orchester ein wenig unfreundlich laut.
Und da wären wir bei zwei Einwänden: Tsujii neigt ein wenig dazu, die begleitende Hand zu Lasten der melodischen Seite ein wenig zu vernachlässigen. Und zu Rachmaninow gehört letztendlich eine Prise Hazard und Risiko – das fehlte der Aufführung naturgemäß. Aber wirklich vermisst wurde es von niemandem. Um zu einem sicheren Urteil zu gelangen, müsste man diesen Pianisten nicht mit einem Virtuosenstück, sondern mit bedächtigerer Musik hören – dass er auch da zu überzeugen vermag, legte die Zugabe immerhin nahe: der „November“ aus Tschaikowskys „Jahreszeiten“.