Kritik

AZ-Kritik zu Depeche Mode in München: Schwarze Synthie-Schauer im Stadion

Depeche Mode zeigen beim Konzert im Olympiastadion, dass sie auch als Duo harmonieren. Der ehemals Dritte im Bunde schickte aus dem Himmel seine ganz eigenen Grüße. Die AZ war klatschnass dabei.
von  Christoph Streicher
Sänger Dave Gahan von Depeche Mode im Olympiastadion in München.
Sänger Dave Gahan von Depeche Mode im Olympiastadion in München. © Jens Niering

München – Wenn sich ein dicker Kloß im Hals bei den klatschnassen Fans am Ende in Heiserkeit wandelte, war da nicht irgendeine Band zu Gast. Beim Depeche Mode Konzert spielte für viele der Sound eines ganzen Lebens auf der Bühne. Himmel und Hölle, grausame Schicksalsschläge, traurige Melancholie bis zur größten Euphorie. Was im Fan-Leben passiert, erwischte über die Jahre auch die Band. Auf der "Memento Mori"-Tour im Olympiastadion dachte die beständigste Synthie-Band der Welt laut über (ihre) Vergänglichkeit nach.

Sie wuchsen von einer 70er-Jahre-Elektro-Truppe zu den größten Riesen im Musikgeschäft. Trotzdem bewiesen Sänger Dave Gahan und Gitarrist Martin Gore, dass eine Nummer kleiner am Ende alles viel größer macht – auch besagten Kloß im Hals. Die AZ-Kritik zum Depeche Mode Konzert in München.

Depeche Mode Konzert in München: Die Show ohne Show

Was hat München diesen Sommer nicht schon für musikalische Mega-Shows erlebt. Der Feuerzauber von KISS am Königsplatz oder das Lichtermeer bei Harry Styles an gleicher Stelle. Bei Depeche Mode herrschte fast ein wenig Entzugserscheinung. Die Band spielte einfach mal wieder ein Konzert. Kein Feuerwerk knallte von der Bühne, kein Konfetti rieselte zum Abschluss. Ein Buchstabe "M", der den Titel des neuesten Albums "Memento Mori" darstellte und ein paar stimmige Licht-Effekte waren das höchste der Gefühle. Im Hintergrund flimmerte gelegentlich etwas Kunst vom Haus- und Hof-Fotografen Anton Corbijn über die Leinwand.

Depeche Mode sind zurück auf den großen Bühnen.
Depeche Mode sind zurück auf den großen Bühnen. © Jens Niering

Was allerdings Aufnahmen von Eseln beim Song "It’s No Good" oder ein Totenkopf bei "Enjoy The Silence" bedeuten sollten, erschloss sich wohl nicht allen Fans. Egal, eine Art Kleinkunstbühne, auf der die größten Hits eines ganzen Musik-Genres gespielt wurden. Spektakel sieht anders aus und das ist an dieser Stelle gut so.

Trotz Schicksalsschlag: Depeche Mode spielen wieder in München

Denn noch vor gut einem Jahr hätte wohl keiner der 60.000 hier erwartet, die Band noch einmal wiederzusehen. Gründungsmitglied Andy Fletcher starb im Alter von 60 Jahren an einem Riss in der Hauptschlagader. Somit war die Urbesetzung auf Gahan und Gore geschrumpft. Es hätte ihnen niemand verübelt, wenn sie Kajal-Schminke und Glitzerjacke an den Nagel gehängt hätten.

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Der Kloß im Hals war zu spüren, als der postapokalyptische Sound von "My Cosmos Is Mine" einsetzte. Die Blicke der Fans gingen auf die rechte Seite der Bühne, wo sonst das Keyboard von Fletcher stand. Anstatt einen leeren Raum zu hinterlassen, stelle die Band dort das Schlagzeug von Drummer Chri­stian Eig­ner auf. Vergessen wurde der alte Kumpel aber nie während der zwei Stunden.

Schickte Andy Fletcher Gewitterwolken als letzten Gruß an die Band?

Die Band widmete ihm das Lied "World In My Eyes". Die Video-Leinwand zeigte ein Porträt von Fletcher, bei dem er langsam die Augen schloss. Gahan zog sich in den Hintergrund zurück, formte mit beiden Händen ein Brillenglas und überließ seinem alten Freund noch ein letztes Mal die Bühne. Fletcher steuerte vielleicht seinen Teil von oben dazu. Er schickte zuckende Blitze, fast passend zu den Beats und einen wilden Regenschauer. Eine ebenso unwirkliche wie spektakuläre Einlage und der einzige Spezialeffekt bei der Bühnenshow. Die Fans flüchteten unter das Zeltdach oder störten sich nicht am Regen und feierten einfach weiter.

Ein Duo harmoniert beim Depeche Mode Konzert in München

Stichwort Freundschaft: Es war rührend zu sehen, wie die beiden Hauptdarsteller und Ex-Streithähne anscheinend altersmilde wurden. Auch wenn sie auf der Bühne nicht viel miteinander sprachen – es heißt doch schließlich in einem Song "Enjoy The Silence" – kamen sie immer wieder zusammen.

Erst half Gahan seinem Kollegen die regennasse Treppe hoch – gentlemanlike. Nach "Waiting For The Night" lagen sich die beiden sekundenlang im Arm. Ein ebenso unwirkliches Bild wie das Gewitter zuvor. Kurz und fast ungehört stimmte Gahan auf dem Weg zurück zur Bühne Arm in Arm mit Gore "Riders on the Storm" von The Doors an. "Das spielen wir jetzt aber nicht", rief er lachend den klitschnassen Fans zu. Kurz danach zeigte er noch seine Freddie-Mercury-Parodie. So gut gelaunt hat man den Frontmann wohl selten erlebt.

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Dave Gahan: Eine Mischung aus Graf Dracula und sexy Snooker-Spieler

Irgendwann erlagen alle dem leicht erotischen Charme des Leadsängers. Es begann das große Gahan-Gucken. Er war Menschenfänger, Zeremonienmeister, Gockel und Gentleman zugleich. Der Mann ist ein theatralisches Wunder und sah mit seiner knappen Weste aus wie eine Mischung aus Graf Dracula mit Drehwurm und einem sexy Snooker-Spieler. Mit Engelszunge entließ er Hits wie "Soul With Me" und "Precious" schmachtend in die Nacht. Seine Drehungen und Bewegungen auf der Bühne ließen nicht vermuten, dass sich da gerade ein 61-Jähriger lasziv in die Haare und in den Schritt fasste.

Schwarze Synthie-Klänge bei Depeche Mode im Olympiastadion

Einführungsstunde in den schwarzen Kosmos von Synthie-Klängen und cineastischen Gitarrenriffs. Auch die Fans passten sich dem Konzert-Konzept an. Fast alle von ihnen waren komplett in Schwarz gekleidet. Nicht (nur) wegen der Trauer um Fletcher. Es ist seit Jahren der Style vom "Schwarzen Schwarm".  Der Look gehört einfach zur Band-DNA und so standen oft die melancholischen Songs mit schwerer Syn­the­tik wie "In Your Room" oder tanzbarer Trauer wie "Ghosts Again" im Vordergrund.

Partyhits trotzen der Melancholie

Und natürlich gehören zu einer Bandgeschichte nicht nur Melancholie, sondern auch die größten Party-Hits, die inzwischen auf andere Weise in den Stadien dieser Welt erklingen. "Just Can't Get Enough" gefällt zwar nicht mehr allen eingefleischten Fans auf der Setlist. Doch über die Jahre zog der Song auch in die Fankurven bei Fußballfans.

Und so war es erfrischend erleichternd, die angestaute Melancholie einfach mal in den Regen zu brüllen. Die letzten Takte von "Personal Jesus" gingen im gleißenden Scheinwerferlicht unter. So muss sich das Erwachen aus einer zweistündigen Hypnose anfühlen. Was am Ende blieb, ist der Kloß im Hals – oder war es doch die nahende Vergänglichkeit (der Stimme)?

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