AZ-Interview mit Campino zum neuen Toten-Hosen-Album "Laune der Natur"

Als sich die Toten Hosen 1982 in Düsseldorf gründeten, wurde im selben Jahr Helmut Kohl neuer Bundeskanzler. 35 Jahre später ist die Band immer noch am Start, nun erscheint "Laune der Natur". Die AZ hat Frontmann Campino getroffen.
Der 54-jährige als Andreas Frege in Düsseldorf geborene Sänger und Songwriter der Toten Hosen stand auch als Schauspieler auf der Bühne und vor der Kamera.
AZ: Campino, das Album beginnt textlich und musikalisch mit einem "Urknall", aber das Hauptthema ist die Vergänglichkeit.
CAMPINO: Auf jeden Fall.
Sie thematisieren auf dem Album den Tod des langjährigen Hosen-Schlagzeugers Wölli Rohde sowie Ihres Managers Jochen Hülder.
Mit Wölli habe ich in der Zeit vor seinem Tod noch sehr viel gesprochen, und es war tröstlich zu sehen, dass er unheimlich dankbar war für sein Leben und wie er es gelebt hatte. Ich hatte das Gefühl, dass er doch ganz gut loslassen konnte am Schluss. Jochens Tod war sehr bedrückend.
Was bedeutet sein Verlust für die Toten Hosen?
Jochen war der erste und einzige Manager meines Lebens. Er ist nicht zu ersetzen, und ich gedenke auch nicht, dies zu tun. Ich kann von keinem anderen Menschen erwarten, einfach in unser lange gewachsenes Gefüge hineinzuschlüpfen und zu sagen: "So, ab jetzt mache ich das." Durch Jochens Tod fühlen wir uns dazu aufgerufen, untereinander wieder näher zusammenzurücken und uns immer zu fragen, wie er wohl entscheiden würde. Den Rest versuchen wir dann mit unserer Erfahrung zu kompensieren.
Wenn man nach über 30 Jahren mit nahezu denselben Leuten in einer Band spielt, dann hat man entweder keinen anderen Job gefunden oder man mag sich wirklich, heißt es.
Beides ist der Fall. Aber ich denke, man merkt, dass es bei uns immer noch um Leidenschaft geht. Wir geben bei jedem Album alles, was wir zu geben haben. Das ist wie bei einer englischen Fußballmannschaft: Es sieht nicht immer gut aus, aber wir rennen immer bis zum Schlusspfiff.
Der Erfolg des Vorgängers "Ballast der Republik" war ja monströs, gibt es dadurch einen besonderen Druck?
Wir hätten deutlich mehr Druck verspürt, wenn die Platte ein Flop geworden wäre. Ich glaube, man muss sich von dem Erfolg des Vorgängers freimachen. So etwas wie "Tage wie diese" kann man nicht wiederholen. Und so verstehe ich auch nicht den Auftrag eines Künstlers. Was macht einen Hit aus?
Klar, es muss ein gutes Lied sein, aber dann muss auch der Moment passen, die Stimmung in der Bevölkerung – das kann man nicht steuern oder strategisch planen. Wir sind dem Album einfach dankbar, weil es uns noch einmal eine ganz andere Aufmerksamkeit gebracht hat. Trotzdem beginnt jetzt die neue Zeitrechnung und "Laune der Natur" muss sich dann von alleine bewähren.
Brauchen Sie überhaupt ein neues Album, um zu touren?
Unbedingt. Wir ziehen unsere Existenzberechtigung auch daraus, dass die Leute an den Liedern interessiert sind, die wir heute schreiben. Wenn das angenommen wird, dann macht es auch großen Spaß, die Klassiker herauszuholen. Aber eine ewige Retroband zu sein, wäre uns zu wenig. Als wir Rock am Ring zugesagt hatten, war uns klar, dass wir das mit neuen Songs zelebrieren würden.
Vor ein paar Jahren sind wir dort ohne ein neues Album angetreten und es war trotzdem top. Aber ich fände es von unserer Seite aus eine Frechheit, das damalige Konzert einfach zu wiederholen. Jetzt müssen wir mal schauen, wie das Album live funktioniert.
Sie haben in Buenos Aires vor 75.000 Menschen gespielt, in Deutschland die größten Arenen gefüllt. Ist dann so ein Auftritt wie im Hackerzelt 2012 trotzdem noch etwas Besonderes, oder ist das am nächsten Morgen vergessen?
Oh nein, das hängt mir bis heute nach. Es wäre ein feiner Abend gewesen, weil ja alle betrunken waren und es niemandem aufgefallen wäre, dass ich es auch war. Aber wenn jeder dann am nächsten Tag im nüchternen Zustand diese katastrophalen Aufnahmen von mir beim Singen sieht...
Wieso katastrophal? Da war doch eine Bombenstimmung.
Schon, aber ich war strack. Freunde hatten mir erzählt, dass "Tage wie diese" in jedem Zelt gespielt wird. Und da dachte ich mir: Okay, das ziehe ich mir mal rein, nachdem mein erster Oktoberfestbesuch 30 Jahre zuvor nur zehn Minuten gedauert hatte.
Was war denn damals geschehen?
Damals war das viel rauer. Wir als Punks kamen in ein Zelt, und uns schlug offene Feindschaft entgegen. Es war klar, dass es auf eine Schlägerei hinauslaufen würde und darauf hatte keiner von uns Lust. Wir waren Fremdkörper und sind einfach gegangen. Heute ist das ja eine ganz andere Veranstaltung. Viel toleranter.
Tja und dann gab es halt den letzten Wiesnabend 2012. Ich wollte einen Crashkurs machen – innerhalb eines Nachmittages in jedem Zelt eine Maß. In Zelt Nummer sieben ist es dann geschehen – ich wurde zur Festzelt-Band geschoben und musste "Tage wie diese" singen.
Und alle sangen mit.
Ich glaube, das war mein größter Erfolg in Bayern, seitdem bin ich hier rehabilitiert. Ich hatte mir mit dem Song gegen Bayern München ja nicht so viel Freunde hier gemacht, aber nach meinem Zeltauftritt war der allgemeine Konsens: "Der Typ ist sich für nichts zu schade." Ich glaube, danach war das Eis gebrochen. Es fühlte sich in dem Moment auch völlig richtig an, aber noch besser wäre es gewesen, wenn es keine Handys gegeben hätte. Ich möchte heute nicht mehr so gerne betrunken in der Öffentlichkeit gesehen werden. Früher war mir das völlig egal.
Bei Konzerten ist Alkohol tabu?
Nahezu, sonst hält man das gar nicht durch. Die Feste werden an anderen Tagen gefeiert.
Es gibt auch andere Konzessionen an die Vergänglichkeit: Sie klettern nicht mehr jeden Bühnenturm hoch.
Meine persönliche Risikobereitschaft ist alleine schon dadurch eingeschränkt, dass ich seit geraumer Zeit Vater bin. Es wäre erbärmlich, wenn ich in dieser Rolle durch einen Bühnenunfall nicht mehr zur Verfügung stünde. Tatsächlich geht es aber um etwas ganz anderes: Wann fängt ein gewisses Benehmen an, lächerlich auszusehen oder einfach nur traurig? Man will keinen älteren Mann mehr an der Traverse hängen sehen, nur damit er sich und der Welt beweist, dass er es noch kann.
Das hätte etwas Verzweifeltes. Ich beobachte gerne die Rolling Stones, die in meinen Augen mit Würde älter werden. Es gab mal eine Phase, die mir bei Jagger gar nicht gefallen hat. Er tanzt ja fantastisch, aber er hat es dann übertrieben, vor allem mit seinem Hinternwackeln. Heute bewegt er sich immer noch klasse, lässt aber diese überzogenen Jugendposen weg. Das steht ihm viel besser zu Gesicht.
Sie waren in den 80er Jahren Jugendidol. Immer noch gehen Teenager auf die Hosen-Konzerte, was bedeuten Sie für diese Generation?
Ich kann ja nur aus unserer Perspektive berichten. Als wir zwischen 20 und 30 waren, war es ganz klar unsere Aufgabe, die Jungen von den Alten zu spalten. Es war in unserem Sinne, dass die Eltern sagten: "Du gehst nicht auf ein Konzert der Toten Hosen." Streckenweise war es auch nicht ungefährlich. Es gab viel Polizei, Schlägereien – all das, was unserem Lebensgefühl von Rock’n’Roll entsprach.
Das passte zu der Zeit. Mit den Jahren haben wir verstanden, dass jede Generation eigene Helden braucht. Wenn wir heute die Jungen mitnehmen wollen, dann geht das nur über den entgegengesetzten Ansatz: verbinden, nicht spalten. Dieser Generationenkonflikt, wie wir ihn noch erlebt haben, existiert ja gar nicht mehr. Heute gibt es Familien, die sich so gut verstehen, dass die Kinder die Eltern mit aufs Konzert nehmen, oder umgekehrt. Das finde ich herrlich. Wir sind nicht mehr die Band für die Jugend, die sich mit ihrem Musikgeschmack gegen die Eltern auflehnen möchte.
1994 haben Sie für den "Spiegel" die damalige Jugendministerin Bundeskanzlerin Angela Merkel interviewt – mit der wunderbaren Einstiegsfrage: "Waren Sie überhaupt irgendwann einmal jung?" Hätten Sie Lust, sie heute wieder zu interviewen?
Vor fünf Jahren hätte ich nicht gewusst, warum ich dies tun sollte, heute würde ich sagen: "Warum nicht?" Mir nötigt ihre Haltung der letzten Jahre Respekt ab. Ich finde ihre Standhaftigkeit in einigen Fragen großartig. Es ist nicht alles toll, was sie als Kanzlerin fabriziert, aber sie ist sich der Verantwortung bewusst, dass Deutschland in Europa als Stabilitätsfaktor dasteht.
Das ist unschätzbar viel wert. Frau Merkel ist auch nur ein Mensch, und wie sie wegen ihrer Flüchtlingspolitik angefeindet wurde, auch aus dem eigenen Lager, das ist mental sicher nicht leicht zu verkraften. Ich möchte gar nicht wissen, wie oft sie sich schon gedacht hat: Macht Euren Scheiß doch alleine.
Es gibt auf dem neuen Album den Song "Pop & Politik", der aus Beschimpfungen besteht, die gegen Sie geäußert wurden, wenn Sie sich politisch äußerten. Ansonsten aber gibt keinen Song mit dezidiert politischem Inhalt. Warum nicht?
Es braucht jetzt nicht unbedingt ein Lied der Toten Hosen, um zu sagen, dass Trump scheiße ist. Das wäre in all dem Geschrei eher etwas ganz Blasses. Politische Lieder zu schreiben ist nicht einfach, da muss man sich genau überlegen, wie man das angeht. Für mich ist aber "Unter den Wolken" ein politisches Lied. Es ist natürlich eine Anspielung auf Reinhard Meys Song, der in den 70er Jahren so etwas wie eine inoffizielle Hymne für die Bundesrepublik war, aber bestimmt auch für die DDR.
Unser Song ist eine Weiterführung seiner Gedanken, läuft aber nicht Gefahr, in sechs Wochen schon wieder überholt zu sein. Die Ereignisse überstürzen sich gerade so dermaßen, dass es schwierig ist, ein Lied zu texten, das über die nächsten 14 Tage hinaus Bestand hat. Aber das ist auch nur ein Teil der Wahrheit.
Und der andere?
Wenn man ein Album macht, schießt man zunächst aus allen Rohren, jede Idee wird aufgenommen, es gibt einen großen Pool an Songs. Mit der Zeit fallen schwächere Lieder raus, aber in der Schlussphase hatten wir dieses Mal immer noch 30 Stücke. Es waren auch politische Themen dabei, die es aber dann doch nicht auf das Album geschafft haben. Ein solches Stück, "Im Gegenwind der Zeit", ist aber auf der B-Seite der Singleauskopplung. Und deutlicher gegen Rechts als in dem Song kann man sich nicht äußern.
Wieso haben Sie für das Album die Hilfe von Materia als Texter gebraucht?
Marten ist ein guter Freund von mir, wir fahren manchmal zusammen in die Ferien, spielen mit unseren Kindern Fußball und zeigen uns gegenseitig, woran wir gerade arbeiten. Wenn man so viel Zeit zusammen verbringt, bleibt es nicht aus, dass man gemeinsam Songideen entwickelt. In der HipHop-Szene sind solche Kooperationen viel üblicher als in der Rockmusik.
Ich habe durch ihn, er ist ja 20 Jahre jünger, auch einen unverkrampften Zugang zu dem, was bei Jüngeren angesagt ist und kann ihm andererseits mit meiner Erfahrung helfen. Der Austausch mit Marten ist eine Bereicherung. Und für mich ist es auch viel schöner, im Ping-Pong-Stil Texte zu schreiben, als immer alleine dazusitzen und mit den Dingen zu hadern.
Sie paraphrasieren mit "Geschichte ist gemacht" eine der bekanntesten Textzeilen von Fehlfarben auf dem Album "Monarchie und Alltag".
Als ich mit 15, 16 Jahren in die Szene im Ratinger Hof kam, da gab es eine lockere Clique und Peter Hein von Mittagspause und später dann den Fehlfarben war da ganz klar der Wortführer zusammen mit Jürgen Engler von Male, der heute bei Krupps ist. Ich zwar drei, vier Jahre jünger und das waren Jungs, zu denen ich eine Zeitlang aufgeblickt habe.
Wir waren alle angefixt von der Londoner Szene und der Auftrag war klar: Wir übersetzen dieses Lebensgefühl in unsere Sprache und unsere Welt. Peter Hein und Jürgen Engler sind dafür verantwortlich, dass damals in Düsseldorf gesagt wurde: "Wir definieren uns auf Deutsch." Es war nicht so, dass uns da jemand wie Udo Lindenberg beeinflusst hätte, wenn überhaupt, dann eher Kraftwerk. Die Symbiose und Zusammenarbeit mit den Düsseldorfer Künstlern war natürlich ebenso wichtig. Um auf "Monarchie und Alltag" zurückzukommen: Ich habe damals schon verstanden, dass Peter Hein textlich in einer anderen Liga gespielt hat. Und ich sage das vollkommen ohne Neid.
Sie haben mit Punk-Zeitgenossen aus aller Welt "Learning English Lesson 2" gemacht, 25 Jahre nach dem ersten Huldigungsalbum. Sie wundern sich aber auch darüber, dass Sie die Fackel allein weitertragen müssen. Fehlt der heutigen Jugend die Energie für den Punk?
Nein, die Zeiten sind einfach völlig anders. Dass sich große Teile der Jugendlichen so stark über Musik oder Mode definieren und abgrenzen, wird es nicht mehr geben. Der Wahnsinn und die Wut finden immer noch ihr Ventil, vor allem im HipHop. Sie sind ein Impulsgeber. Ich finde, dass es dort so viele gute deutsche Raptexte gibt wie nie zuvor.