Auf dem Sprung ins Blaue

Am 3. Juli vor 90 Jahren wurde der legendäre Dirigent Carlos Kleiber in Berlin geboren
von  Michael Bastian Weiß
Carlos Kleiber trat bei der Faschingsdienstags-„Fledermaus“ in der Bayerischen Staatsoper stets in besonderer Verkleidung auf – hier als Bhagwan, im Jahr 1980.
Carlos Kleiber trat bei der Faschingsdienstags-„Fledermaus“ in der Bayerischen Staatsoper stets in besonderer Verkleidung auf – hier als Bhagwan, im Jahr 1980. © Anne Kirchbach

Dass ein Dirigent eine laufende Probe mit den Wiener Philharmonikern ohne Ankündigung verlässt und dann nur per Zettel mitteilt: „Bin ins Blaue gefahren“ – das wäre heute kaum mehr möglich. Eigentlich war es auch früher nicht möglich, nur hat sich Carlos Kleiber, der an diesem Freitag seinen 90. Geburtstag feiern würde, solche Sperenzchen eben trotzdem geleistet.

Man hat sie ihm verziehen, ebenso wie viele andere Eigenheiten, sein extrem kleines Repertoire etwa: Während ältere Kollegen wie Herbert von Karajan im Alleingang ganze Plattenschränke füllten und Lorin Maazel sämtliche Symphonien von Ludwig van Beethoven an einem Tag aufführte, schenkte Kleiber nur einer handverlesenen Auswahl von Werken seine Aufmerksamkeit.

Tief sitzende Unsicherheit

Gerade in einer Zeit, in der das Konzertleben so systematisch durchökonomisiert wurde wie der Schallplattenmarkt, wirkt die viel zitierte „Verweigerungshaltung“ Carlos Kleibers sympathisch. Nur zu dirigieren, wenn man Lust dazu hat, das klingt wie eine Utopie.

Doch wenn man den Erinnerungen von Orchestermusikern Glauben schenkt, hatte Kleibers komplizierte Art wohl einen ernsteren Hintergrund, der wenigstens eine tiefsitzende Unsicherheit vermuten lässt. So war Kleiber etwa Dauergast der Münchner Proben von Rafael Kubelik, der den jüngeren Kollegen einmal vor versammeltem Orchester damit konfrontierte, dass er sich nicht auf das Podium traue – und den Vorwurf der Feigheit mit einem Kraftausdruck von Johann Wolfgang von Goethe garnierte.

Gleichzeitig ist es genau diese Haltung, nur Musik zu machen, wenn man dazu die besten Probenbedingungen hat und sich außerdem inspiriert fühlt, welche die wenigen Tondokumente, die Carlos Kleiber hinterlassen hat, so einzigartig machen.

Niemand dirigierte etwa den „Rosenkavalier“ von Richard Strauss so schwungvoll, operettenhaft leicht, wie die Filmaufnahmen (DG) oder der Münchner Mitschnitt von 1973 auf CD dokumentieren (Orfeo) – nicht einmal sein Vater, der berühmte Erich Kleiber, von dem es ebenfalls eine Referenzaufnahme der Oper gibt (Decca). 

Carlos Kleibers Beethoven

Auch Carlos Kleibers Aufnahmen einiger ausgewählter Symphonien von Ludwig van Beethoven gehören zum Besten, was man in dem Haufen hunderter Interpretationen dieser Werke finden kann. Wer einmal gehört hat, wie unwiderstehlich lustvoll er etwa die Symphonie Nr. 4 dahinwirbeln ließ, wird selbst die klassischen Aufnahmen von Furtwängler, Karajan und Bernstein als erdenschwer empfinden. In dem Mitschnitt von 1982 riss er das Bayerische Staatsorchester zu genauestens ausbalancierten Tutti-Explosionen hin.

Ein Jahr später war Kleiber zu einer ähnlich überfliegenden Interpretation der Symphonie Nr. 6 aufgelegt, wieder mit dem glänzenden Staatsorchester. Die „Pastorale“ hat hier im Gegensatz zu vielen anderen Deutungen nichts betulich Idyllisches an sich, sondern strahlt in stürmischen Tempi überbordende Lebensfreude aus: mehr menschliche Empfindung, Begeisterung, ja fast Revolutionsstimmung, statt braver Naturmalerei – und damit exakt dem Geist des Komponisten entsprechend, wie er es in seiner berühmten Selbstbeschreibung formuliert hatte.

Auch nach fast vierzig Jahren haben diese beiden Konzertmitschnitte, wie auch derjenige der Symphonie Nr. 7 A-Dur mit dem Staatsorchester, keinerlei Patina angesetzt, man glaubt, dem Augenblick des Musizierens selbst beizuwohnen (Orfeo). Diese Unmittelbarkeit haben die beiden Studioaufnahmen der Symphonien Nr. 5 und Nr. 7 aus den 1970er Jahren nicht ganz. Dafür bilden die Wiener Philharmoniker hier eine honiggleiche klangliche Flexibilität aus, für die es keinerlei Entsprechung gibt (DG).

Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, zu welchen Wundern Carlos Kleiber fähig war, sollte die Konzertmitschnitte hören. Ein echter Schallplattendirigent ist er nicht gewesen. Dafür war er zu spontan, zu genialisch, zu freiheitsliebend: immer auf dem Sprung „ins Blaue“.

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