Anna Depenbusch über "Echtzeit"

Anna Depenbusch hat ihr neues Album „Echtzeit“ auf ungewöhnliche Weise aufgenommen
Michael Stadler |
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Die Hamburger Liedermacherin Anna Depenbusch hat ein neues Album aufgenommen.
Steven Haberland Die Hamburger Liedermacherin Anna Depenbusch hat ein neues Album aufgenommen.

Klar, zur Begrüßung gibt es keinen Handschlag. Stattdessen wirft Anna Depenbusch dem Interviewer beim Treffen im BR-Funkhaus vor einer Woche charmant ein Kusshändchen zu. Auch gibt ein Song wie „5 Meter“ aus ihrem neuen Album „Echtzeit“ noch Anlass für Scherze: Von einem „5-Meter-Kuss“ oder „5-Meter-Blick“ singt die Hamburger Liedermacherin darin, natürlich in einem völlig virenfreien Zusammenhang.

Depenbuschs Konzert in München, angesetzt für Samstag im Prinzregententheater, findet jetzt am 25. November an gleicher Stelle statt. Nichtsdestotrotz ist ihr neues Album draußen, lässt sich kaufen, streamen und beliebig oft anhören. Und es lohnt sich, nicht nur, weil die neuen Songs schön sind, sondern auch, weil Depenbusch ein besonderes Aufnahmeverfahren wählte: den Vinyl-Direktmitschnitt. Das heißt, sie spielte alle elf Songs bei einer Session im Januar ein, singend und Klavier spielend, ohne Schnitt und ohne nachträgliche Korrekturen.

AZ: Frau Depenbusch, zunächst mal zum Titel ihres neuen Albums. Wie kamen Sie auf „Echtzeit“?
ANNA DEPENBUSCH: Dieser Begriff ist mir in den letzten Monaten sehr häufig begegnet: Irgendwas passiert auf dem Handy in „Echtzeit“, neue Informationen und Nachrichten-Updates kommen in „Echtzeit“. Ich habe mich gefragt, was das eigentlich bedeutet: Ist das nur ein technischer oder ein emotionaler Begriff?

Und?
Für mich ist es vor allem ein emotionaler Begriff. Es geht darum, im Augenblick zu sein, ganz im Hier und Jetzt. Durch Zufall hörte ich von diesem Verfahren, mit dem vor allem früher Platten aufgenommen wurden. Ein Berliner Klezmer-Trio nahm eine Platte in diesem Stil auf und ich konnte der Aufnahme beiwohnen. Dabei konnte ich sehen, wie gleich drei Räume direkt ineinandergreifen: der Aufnahmeraum; der Regieraum, wo die Spuren in Echtzeit gemischt werden; und der Schneideraum, wo das Vinyl geschnitten wird. Ich fand das so faszinierend, dass ich mich dazu entschloss, mein neues Album genauso zu produzieren. Dabei war mir schon klar, dass das auch eine Art Mutprobe ist, weil sich danach nichts mehr ändern lässt. Perfektion würde da nicht möglich sein. Aber dafür entsteht etwas im Moment und wird möglichst direkt an den Zuhörer weitertransportiert.

Dieses Projekt erinnert an filmische Experimente wie Sebastian Schippers „Victoria“, gedreht in einer Einstellung, ohne Schnitt. Schipper unternahm drei Dreh-Versuche. Wie war das bei Ihnen?
Es gab auch bei mir drei Anläufe. Ich musste einige Dinge nach und nach lernen, die sich nicht so einfach vorhersehen ließen. Zum Beispiel gibt es bei einer Vinyl-Aufnahme, natürlich, zwei Seiten. Das waren in meinem Fall jeweils 18 Minuten. Also musste ich erstmal überlegen und ausprobieren, an welchem Punkt eigentlich die Scheibe gedreht wird, mit welchem Lied ich die erste Seite beende. Zunächst dachte ich, ich lasse sie mit einem richtigen Knaller enden, aber mir wurde von meinem Tonmeister gesagt, dass es besser sei, mit etwas Ruhigerem zu enden. Denn wenn man beim Vinyl sich der Mitte nähert, also ans Ende der Scheibe kommt, werden die Rillen immer enger. Laute Lieder klingen dabei einfach nicht mehr so gut. Das sind so Erkenntnisse, die mit dem Ausprobieren kamen.

Und wie ist das mit den Abständen zwischen den Liedern?
Ja, auch das war gar nicht so einfach. Ich hatte bei einem der ersten Versuche das erste Lied gespielt, dann das Haltepedal noch ein wenig gedrückt und den letzten Akkord ausklingen lassen. Dann habe ich vier, fünf, sechs Sekunden bis zum nächsten Lied gewartet. Dann kam aber ebenfalls mein Tonmeister und meinte, es würde auf dem Album irritieren, wenn die Pausen so lang sind, wo nichts passiert. Also musste ich etwas mehr Gas geben, was ein schnelleres Umschalten bedeutete: Neues Lied, neue Tonart, neues Tempo, neue Stimmung. Auf dieses Wechselspiel der Gefühle musste ich mich erstmal einstellen.

Wobei Sie das ja ähnlich bei einem Live-Konzert erleben.
Ja, aber da sind die Pausen zwischen den Liedern doch um einiges länger. Applaus – Lichtwechsel. Auf der Bühne vergeht die Zeit auch irgendwie schneller. Und bei einem Live-Konzert-Mitschnitt sitzt man wesentlich fester im Sattel: In der Regel war man da schon so ein Jahr mit dem Programm auf Tour.

Wie lange haben Sie für das Einspielen des Albums geübt?
Der ganze Prozess, von der ersten Idee bis zum fertigen Album, ging ungefähr ein dreiviertel Jahr lang. Die ganz heiße Übungsphase dauerte einen Monat lang.

Von Verspielern ist, zumindest beim ersten Anhören, nichts zu merken.
Naja, es gibt schon Momente, in denen ich zum Beispiel Dreher in der Akkord-Abfolge hatte, aber das merkt man vielleicht nicht. Wenn ich mal so richtig herzhaft danebengegriffen hatte, musste ich aber schon abwägen: Spiele ich weiter? Oder ist der Fehler so gravierend, dass ich lieber abbreche? Schaffe ich aber den Anfang noch mal genauso gut? Einmal habe ich mich wirklich arg versungen, so dass ich gesagt habe, okay, ich opfere jetzt diese eine Vinyl-Folie und mache noch einen weiteren Durchgang.

Sie hatten zur Unterstützung ein Publikum dabei. Erstaunlicherweise hört man es nicht.
Ja, die wurden am Anfang kurz eingewiesen und saßen dann total ehrfürchtig da. Sie haben sich auch nicht getraut zu klatschen. Aber man hört schon mal ein Stuhlrücken, auch bei mir. Oder das Rascheln eines Notenblatts. Das gibt dem Ganzen einerseits Live-Charakter, gleichzeitig hat es weiterhin etwas von einer Studioaufnahme. Diese Mischung gefällt mir. Jemand hat nach Anhören des Albums zu mir gesagt: Es klingt so, als ob du neben mir sitzt und singst. Und ich dachte mir: Genauso soll es sein.

Üben Sie weiter Lieder auf Ihrem Stammklavier, Frau Rachals?
Ja natürlich. Ich nenne sie eine „Flügel-Dame“: hundert Jahre alt, in Hamburg gebaut und dort ist sie auch immer geblieben, hat gelebt und Erfahrungen gesammelt. Mit Frau Rachals unterhalte ich mich, sie erzählt mir ihre Geschichten. Sie war ja bei unserer ersten Begegnung total runter, der Lack war ab.

Woraufhin Sie sie aufwändig restaurieren ließen.
Ja, ich habe damals überlegt, ob ich sie nur reparieren lasse. Ein Klavierbauer hat auch zu mir gesagt: „Frau Depenbusch, was am Ende einer Restaurierung rauskommen würde, hat klanglich nicht viel Potenzial, das ist nun mal nur ein kleiner Salonflügel.“ Aber mir war es wichtig, keinen 08/15-Flügel zu haben, sondern diesen Geschichtenerzählerflügel, weshalb ich Frau Rachals restaurieren ließ: neue Saiten, neue Mechanik. Holz ist ein organisches Material, irgendwas von den einhundert Jahren muss darin gespeichert sein.

Es gibt mit „Alte Schule“ auch einen Song auf dem Album, in dem die 1920er musikalisch aufleben.
Ja! Und es gibt weitere Momente, in denen Frau Rachals durchschimmert. Bei „Gegen die Schwerkraft“ kommt eine Stride-Piano-Technik zum Einsatz, die in den Zwanziger-Jahren entstand, die man zum Beispiel vom Ragtime kennt: Die linke Hand spielt im Wechsel Oktaven und Akkorde, während die rechte die Melodie spielt. Da wäre ich nicht drauf gekommen. Das hat mir Frau Rachals erzählt.

Es wird auch ein früheres Lied von Ihnen fortgesetzt: Während es bei „Tim liebt Tina“ um den Wechselreigen der Liebe ging, kommt es nun in „Tim 2.0“ zu einer Wiederbegegnung der Ex-Lover.
Ja, wobei es gar nicht meine Idee war, das wieder aufzulegen. Ich wurde einfach immer wieder gefragt, was denn aus Tim und Tina geworden sei, bis ich selbst ganz neugierig wurde. Jetzt sind sie zehn Jahre älter, so Mitte Vierzig. Tim ist ja so ein Selbstoptimierer, bei dem die Frau auch zum Instagram-Account passen sollte. Beruflich ist er sehr erfolgreich, nachts aber fühlt er sich alleine. Da denkt er an früher, wie das war mit seiner Jugendliebe Tina, und nimmt wieder Kontakt auf. Tina führt mittlerweile ein ganz anderes Leben. Davon zehrt dann auch Tim. Es gibt sogar ein Happy End!

Und auch musikalisch hat sich was verändert.
Ja, „Tim liebt Tina“ war im Dreiviertakt. Das hatte so ein schwingendes Walzergefühl. Die Fortsetzung ist nun straighter, im Viervierteltakt.

Sie hegen weiter Ihre Faszination für die Naturwissenschaften: „Die Eisvogelfrau“ ist der Mathematikerin Emmy Noether gewidmet, „Schlaflied für Pauli“ dem Physiker Wolfgang Pauli.
Ja, das bleibt mein größtes Hobby. Bei vielen Mathematikern und Physikern ist es ja so, dass sie in der Freizeit ein Instrument spielen: Max Planck spielte Klavier und Cello, Albert Einstein Violine. Bei mir ist es umgekehrt: Ich mache hauptberuflich Musik und beschäftige mich in meiner Freizeit mit Zahlen und Theorien, mit der Wissenschaftshistorie. Es gibt da auch unglaublich interessante Lebensgeschichten: Wolfgang Pauli war ein Genie, wurde Nobelpreisträger, hat sich gleichzeitig in Hamburg die Nächte um die Ohren gehauen und heiratete eine Tänzerin vom Kiez. Emmy Noether war zu ihrer Zeit eine Lichtgestalt, kam aber in der männerdominierten Wissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts kaum zum Zug. Frauen durften gar nicht auf die Hochschulen. Es war dann unter anderem Albert Einstein, der sich für sie eingesetzt hat. Er meinte, diese Frau ist so ein Talent, die muss unbedingt forschen und unterrichten. Solche Geschichten faszinieren und inspirieren mich, auch zu eigenen Kompositionen.

Auf Ihrer Webseite war zu lesen, dass Sie für diese Kompositionen eine feste Routine haben: Jeden Morgen pünktlich um 9 Uhr setzen Sie sich ans Klavier. Ist das noch so?
Ja. Ich mache das in dieser Regelmäßigkeit, weil ich das Gefühl habe, dass die Lieder eigentlich fertig sind. Sie fliegen so herum und suchen sich die Leute, zu denen sie wollen – insofern sollte man schon anwesend sein. Ich nenne das meinen „kreativen Bereitschaftsdienst“: Wenn ich nicht da bin, verpasse ich vielleicht ein Lied. Das ist wie eine Verabredung, ein romantisches Date. Manchmal passiert nichts, dann übe ich ein bisschen. Und denke mir, dass morgen bestimmt wieder eins kommt.

Jetzt kommt die Tour. Oder käme eigentlich.
Ja. Wie es aussieht, müssen wir alle Termine in den Herbst verlegen. Ich will natürlich mit meinen Liedern raus, das Touren ist für mich das Allerschönste. Aber ich Freude mich dann einfach umso mehr auf die Ersatztermine. Hauptsache, wir kommen alle gesund und zuversichtlich über die nächsten Wochen. Jetzt ist erstmal viel Zeit zum Lesen und Musikhören. Auch gut: Dann kann mein Publikum nämlich auf der Tour alle Lieder herzhaft mitsingen!

Anna Depenbuschs Album „Echtzeit“ ist bei Liedland erschienen

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