1 Rockjahr ist 7 Menschenjahre

Das neue Album „Wie wir leben wollen” von Tocotronic ist eine so elegante wie vergiftete Harmlosigkeit. Am Samstag spielen Tocotronic in der Tonhalle und sind jetzt 20 Jahre auf der Bühne
von  Michael Grill

Nicht mehr jung, aber mit junger Stimme, mit jungen Fans, aber natürlich auch den alten seit 20 Jahren geht Tocotronic auf Tour mit ihrem Album „Wie wir leben wollen”. Dirk von Lowtzow erzählt über die Zeit, den Sound, Heino und Frank Schirrmacher.

AZ: Herr von Lowtzow, das Album eröffnet im Lied „Im Keller” mit dem Satz „Jetzt bin ich alt”.
DIRK VON LOWTZOW: Wir waren als Band immer ehrlich, unseren Befindlichkeitsstatus auszuplaudern. Und so wie wir mit 22, 23 gesungen haben, „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein”, ist es jetzt angemessen, dass wir davon sprechen, dass man in der Rockmusik mit über 40 schon alt ist. Außerdem, bitte nicht vergessen: ein Rockjahr ist wie sieben Menschenjahre.

Aber Ihre Stimme klingt weiterhin verdammt jung.
Ich habe da kein Geheimmittel. Aber ich finde es wichtig, das Alters-Thema auszusprechen. Es könnte doch auch eine schöne Perspektive sein, ersetzt zu werden. Man kann sich sogar selbst ersetzen. Es ist möglich, mit 40 noch mit jugendlicher Stimme zu singen. Es ist wichtig und richtig, dass man Kind sein kann – aber auch Greis. Ich misstraue grundsätzlich dem Konzept der Identität. Das ist etwas, das in den letzten 30 Jahren mit dem Neoliberalismus so ungemein wichtig geworden ist: Identität! Das Schlagwort dieser scheußlichen Geisteshaltung ist ja das „be yourself”. Man muss immerzu man selber sein, koste es, was es wolle. Das ist die perfideste Ideologie überhaupt.

Da hat offenbar Frank Schirrmacher von der „FAZ” mit seinem Gegenbuch-Buch „Ego” noch einen Leser gefunden?
Mit Frank Schirrmacher möchte ich nicht belästigt werden. Der Mann ist einfach ein großer Selbstvermarkter.

Um das Reizwort Schirrmacher zu toppen: Finden Sie Heino mit seinen Cover-Versionen jetzt auch cool?
Vielleicht sind die originalen Songs ja doch nicht so gut gewesen? Vielleicht waren die Songs ja schon immer so, dass sie eigentlich Heino waren, nur etwas anders arrangiert?

Aber ein Song wie „Junge” von den Ärzten, der von Heino vergewaltigt wurde, ist ausschließlich mit einer ironischen und distanzierten Haltung singbar – insofern war er doch zuvor im Original etwas völlig Anderes!
Ok, ich gebe es zu, das ist im Original ein sehr, sehr schönes Lied. Ach, ich weiß ja auch nicht, ob man sich da aufregen soll... Jedenfalls ist mir bei Heino wie bei Schirrmacher in jedem Fall zu viel Marketing und zu wenig Substanz vorhanden.

Aber gerade Sie müssten sich sehr fürchten, dass Ihre Musik von Heino irgendwann doch noch als Schunkelmusik kenntlich gemacht wird.
Wenn es irgendeine Qualität in unserer Musik gibt, dann die, dass sie definitiv nicht bierzeltkompatibel oder schunkelkompatibel ist. Man stelle sich vor, Heino würde unseren Song „Kapitulation” singen! Das wäre andywarholmäßiger als Andy Warhol! Es wäre an Absurdität nicht zu überbieten, ich fände das super!

Tocotronic-Konzerte waren immer sehr physische Ereignisse, bis hin zur Erschöpfung aller Beteiligten. Am kommenden Wochenende spielen Sie live in München, was darf man erwarten?
Das wird nicht so sehr viel anders als man es von uns kennt.

Verkaufen Sie eigentlich noch Tonträger? Die Tocotronic-Generation fällt ja genau zwischen die der Noch-CD-Käufer und die der Nur-Noch-Downloader.
Wir haben zum Glück ein loyales Publikum, das weiterhin die Alben kauft. Auch bei den Konzerten, die immer noch beglückende Erlebnisse sind, merken wir, wie viele Leute schon sehr lange mit unserer Musik vertraut sind, dass aber auch viele ganz junge kommen, etwa ab 20. Und es sind etwa gleich viele Frauen wie Männer da. Der Rockbereich ist ja sonst immer noch ein sehr mackerorientiertes Genre.

Das neue Album „Wie wir leben wollen” ist nicht mehr so unmittelbar und laut.
Dieses Album steht einfach für eine andere Art von Musik. Das Leise und Laute, diese spezielle Form von Dynamik, hat uns hier nicht interessiert. Auf den neun Alben davor haben wir das schon intensiv beackert.

Als Badener, der über Hamburg nach Berlin kam und dort heute zuhause ist: Spielen Sie gerne im Süden?
In München ist das Publikum überhaupt das allerschönste. Im Ernst. Ich sage das nicht nur so.

Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen ist hier in München seit Jahren unsere liebste Betriebsnudel in den Kammerspielen. Wäre das ganz ernsthafte Bühnenfach nicht auch mal was für Sie?
Man soll nie nie sagen. Im Moment bin ich aber sehr ausgefüllt. Aber es gibt durchaus die eine oder andere Idee in diese Richtung. Allerdings würde ich es sicher nicht als Autor und Regisseur machen, so wie Schorsch das macht, dazu fehlt mir das Selbstbewusstsein.

Ihr Spitzname soll Erdbeerbär sein.
Ja! Denn der Erdbeerbär aus dem Film „Toy Story 3” ist ein Schurke, der eine Art Schreckensregime in einem Kindergarten errichtet hat. Und er heißt Lotso, also fast genauso wie ich. Das ist natürlich ziemlich lustig. Und er riecht toll nach Erdbeeren!

2013 gibt es Tocotronic seit 20 Jahren. Grund zur Party oder zum Sentiment?
Weder noch, weder noch. Stilles Gedenken!

Tocotronic: „Wie wir leben wollen” (Universal).
Live am Samstag, 6. April 2013, in der Tonhalle

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