Mörderische Konsequenzen
Der Schleier ist das Problem. Und das Geheimnis. Einmal entschleiert, ist die Frau darunter kein Geheimnis mehr, aber ein umso größeres Problem. Weil ihr fremder Sittenkodex als Rache für die Entehrung einen Ehrenmord fordert – und sei es ein Selbstmord.
Als Friedrich Hebbel 1854 „Gyges und sein Ring” schrieb, ahnte er nichts von Kopftuch-Debatten und Ehrenmorden. Im Residenztheater hat Regisseurin Nora Schlocker (28) sich an die selten gespielte Tragödie gewagt – mit erstaunlich frischem Zugriff, kühler Ästhetik und dankenswertem Verzicht auf jede Aktualisierung. Alle Assoziationen zu heute überlässt ihre stimmig gekürzte 90-Minuten-Inszenierung den Zuschauern.
„Ihr Schleier ist ein Teil von ihrem Selbst”, schrieb Rudolf Steiner über Königin Rhodope bei der Uraufführung, die erst 1889 in Wien stattfand. Nur begreift das der lydische König Kandaules, der die Ausländerin geheiratet hat, nicht ganz. Gemäß ihrer Tradition darf nur ihr Mann sie unverschleiert erblicken. Kandaules muss sogar für einen Kuss unter ihren Schleier schlüpfen. Aber er ist eitel und besitzstolz: Was nützt ihm die schönste Frau der Welt, wenn keiner sie sieht? Als ihm sein Vertrauter Gyges, ein zugelaufener Grieche, einen Ring schenkt, der seinen Träger unsichtbar macht, überredet er ihn, nächtlich Rhodopes Schönheit zu sehen – mit mörderischen Konsequenzen.
Imposant die Drehbühne von Jessica Rockstroh: Ein schwarzgepanzerter Gasometer-Zylinder birgt innen ein weißes Halbrund mit dicken Wänden. In dieser abgeschotteten Welt stapelt die aufreizend dekolletierte Dienerin Hero (Katrin Röver) schon mal Stühle auf für einen Blick auf den Olympiade-Jahrmarkt draußen. Britta Hammelstein als silberverschleierte Rhodope wandelt sich vom Standbild zur hochtragisch augenrollenden moralischen Empörung in Person. Sklavin Lesbia (Friederike Ott) zeigt deutlich ihre Verwundung, als sie von Gyges zurückgewiesen wird.
Diesen Gyges spielt Stefan Konarske als unreifes Bürschchen mit Heldenambitionen (und merkwürdig knödelnder Sprache): erst ein arroganter Lustknabe, dann ein durch die Weiblichkeit aus der Bahn geworfener liebeskranker Tölpel. Verdruckst und verkrampft, Kopf eingezogen, Kinn vorgereckt, torkelt er über symbolschwer vom Himmel gefallene Äste mit Äpfeln, erpresst von unterschiedlichen Ehrverständnissen. Wobei er hier nicht einmal das eigene verwirklichen darf: Auf Rhodopes Befehl muss er Kandaules zum Zweikampf fordern. Schlocker lässt ihn zwar noch lügen: „Ich komme, zu kämpfen.” Aber dann sticht er (anders als bei Hebbel) Kandaules kampflos ab – zu verlockend ist die Aussicht auf die Ehe mit Rhodope. Charakterlich kein schöner Zug.
Den wichtigsten Konflikt ficht Kandaules mit sich aus: Werner Wölbern ist ein agiler Reformer, dem das Schwert zu schwer und die Krone zu rostig ist, der darüber Streit mit seinem Volk und seinem treuen Diener Thoas (Paul Wolf-Plottnegg) riskiert, dem aber Lob und Beifall von außen allzu wichtig sind.
Residenztheater, 26., 27. Dez., 5., 6., 18., 24., 26. Jan., Tel.2185-1940
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