Mit Ernst und neuem Geiz
Die 62. Filmfestspiele in Cannes beginnen mit einer Überdosis an grauer Realität
Mousse au Chocolat aus Tuben auf kleine Teller gequetscht: Das war’s kulinarisch bei Disney’s Premierenfeier am Strand des schönsten Hotels hier, dem Carlton. Dabei wären gerade die vielen freien Journalisten, die im überteuerten Cannes überleben müssen, am Buffet bestechlich. Aber Feiern zum Durchschnorren sind in diesem Jahr äußerst rar. So verbreiteten hunderte bunte Luftballons in der Stadt keine rechte Fröhlichkeit, obwohl sie für den wunderbar sentimentalen Eröffnungsfilm „Up“ warben. Im Film lassen sie sogar einen Rentner mit seinem Haus in den Himmel steigen. Aber aus Sicherheitsgründen hatte das luftige Spielzeug keine Zugkraft nach oben. Als Luftgeschöpfe hielten sie gaslos die prallen Köpfe an Plastikstangen in die Höhe. In Cannes geht es in diesem Jahr ernster zu.
Dazu passt auch, dass sich die alterslose, sphinxhafte Jurypräsdentin Isabelle Huppert im beige-lachsfarbenen Art-Déco-Kleid nie mehr als zu einem kühl-arroganten Lächeln hinreißen ließ. Wo es doch die erste Pflicht am Roten Teppich wäre, zu strahlen. So sind auch die ersten beiden Wettbewerbsbeiträge ernster Natur: Der Chinese Lou Ye hatte 2006 seinen Film „Summer Palace“ über das Studentenleben während der blutig niedergeschlagenen Revolte am Platz des Himmlischen Friedens noch unter Gefängnisdrohung nach Cannes geschmuggelt.
Packend dokumentarisch
Sein neuer Film „Spring Fever“ als offizieller chinesischer Beitrag ist noch revolutionärer: Geht es doch – freizügig, aber nicht pornografisch – um Homosexuelle in Nanking. „In China galt 2001 Homosexualität noch als psychische Krankheit“, sagt Lou Ye: „Aber seit 2005 gibt es sogar einen offiziellen Dialog zwischen dem Gesundheitsministerium und Homosexuellen-Verbänden.“ Viel mit Handkamera gefilmt, hat „Spring Fever“ einen packend dokumentarischen Charakter.
Ähnliches strahlt der zweite Film des Wettbewerbs aus. „Fish Tank“ handelt von einer 15-Jährigen, die in einem Unterschichtswohnblock am Stadtrand Londons aufwächst, die Schule abbricht, aber am Ende in ein selbstbewussteres Leben aufbricht. Bei all dieser aktuellen Schwere erwartet man schon Jane Campions Historienstück über den Dichter John Keats (1795 – 1821), den „Parfum“-Star Ben Whishaw spielt. Denn Tragik lässt sich in kostümierter historischer Entrücktheit besser ertragen, vielleicht sogar romantisch genießen.
Adrian Prechtel
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