Michael Wolffsohn über sein Buch "Deutschjüdische Glückskinder"

Michael Wolffsohn hat die Geschichte seiner Familie aufgeschrieben. Am Donnerstag stellt er das Buch im Literaturhaus vor
Das Buch „Deutschjüdische Glückskinder“ erzählt die Geschichte dreier Generationen einer weit verzweigten jüdischen, heute jüdisch-christlichen Familie vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Was sie erlebten, wie sie im Exil, vorher, und nachher lebten und liebten, wie ihr Erleben Kinder und Kindeskinder prägte, davon berichtet der Historiker Michael Wolffsohn pointiert und durchaus streitlustig.
AZ: Herr Wolffsohn, warum besteht Ihre Familie aus „Glückskindern“? Angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts überrascht mich diese Formulierung.
MICHAEL WOLFFSOHN: Der Gedanke stammt von meiner Mutter. Sie wurde 1922 geboren und konnte als 16-Jährige dem Holocaust durch die Flucht nach Palästina entkommen. Im zarten Alter von 93 Jahren sagte sie: „Ich bin ein Glückskind“. Sie hat überlebt, sechs Millionen Juden wurden ermordet. Und über 50 Millionen Kriegstote hatten dieses Glück des Überlebens auch nicht. Aber auch den Begriff „deutschjüdisch“ im Titel sollte man erklären.
Sie verzichten auf den üblichen Bindestrich.
Es war mir wichtig, die Einheit der Zweiheit zu betonen. Ein Bindestrich trennt vor allem zwei Wortteile. Diese beiden Teile gehören in der Familie Wolffsohn zusammen. Sie sind natürlich auseinandergerissen worden. Aber für die Hauptakteure gehört deutsch und jüdisch untrennbar zusammen.
Ihr Buch ist personenreich wie ein russischer Roman. Haben Sie ein Lieblingsfamilienmitglied?
Meinen Großvater väterlicherseits, ein Verleger und Filmpionier. Karl Wolffsohn gründete 1908 das Verlagshaus „Lichtbild-Bühne“, er war Mitgründer der Varietés „Scala“ und „Plaza“ in Berlin. Dort besaß er Kinos und die Gartenstadt Atlantic. Er verlor sein Eigentum durch Arisierungen und floh 1938 nach Palästina.
Warum ist Ihre Familie nach Deutschland zurückgekehrt?
Karl Wolffsohn war ein sehr vermögender Mann. Er wollte nicht einsehen, dass das ihm geraubte Gut bei den Räubern bleiben soll. 1954 wurde er schwer krank und bat meinen Vater, ihm dabei zu helfen. Er tat das als braver Sohn – sein Bruder, ein überzeugter Zionist und landwirtschaftlicher Pionier hätte es als Verrat empfunden, nach Deutschland zurückzukehren. Ich habe mich in West-Berlin als Siebenjähriger und auch danach immer wohlgefühlt. Während der Jahre 1967 bis 1970, als ich in Israel beim Militär war, erkannte ich, dass ich viel deutscher bin, als ich vorher gedacht habe.
Warum beschäftigt uns die Rückgabe geraubten jüdischen Eigentums bis heute?
Die braune Justiz amnestierte sich nach 1945 selbst. Sie war nicht an Rückgabe oder Entschädigung interessiert. Nach dem Ausbruch des Korea-Kriegs wollten die USA eine Wiederbewaffnung Deutschlands, wohl wissend, dass dies volkswirtschaftlich eine angemessene Wiedergutmachung ausschließen würde. Das haben die Amerikaner Israel auch so erklärt. In der DDR war man ohnehin der Ansicht, dass man Kapitalisten nichts zurückzugeben bräuchte. Deshalb blieb das Problem ungelöst.
Ihr Buch trägt das Motto „Den Ahnen – sie prägen uns mehr als wir ahnen“. Wie muss man das verstehen?
Meine Mutter hat im Alter von 14 oder 15 Jahren einer Mitarbeitern meines Großvaters erwidert: „Sie haben mir nichts zu sagen, Sie alte Nazisse“. An der Grenze zwischen Sachbuch und Roman versuche ich darzustellen, wie sehr man als Akteur der Gegenwart beeinflusst ist von seinen Ahnen und ihrem Denken. Jeder von uns hält sich für den Mittelpunkt des Kosmos und die Neuerfindung des menschlichen Seins. Beim Nachdenken über meine Familiengeschichte wurde mir deutlich, wie sehr das Individuum von seinen Vorfahren geprägt wird.
Welche Eigenschaft Ihrer Ahnen hat Sie am stärksten geprägt?
Gegen Unrecht sich zu wehren, unter Inkaufnahme persönlicher Risiken. Damit man nicht allmorgendlich vor sich den Hut zieht, sondern sagt: „Du bist wenigstens halbwegs in Ordnung.“ Ich würde nicht von „Widerstand leisten“ sprechen – denn wir leben in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat.
Sie selbst sind Konflikten auch nie aus dem Weg gegangen. Trotzdem ist in dem Buch auffallend oft von Versöhnung die Rede.
Ich bin harmoniebedürftig. Aber Unrecht, ob es anderen angetan wird oder mir, bin ich nicht bereit zu akzeptieren. Das haben meine Großeltern und meine Eltern vorgelebt. Aber der Verrat an dem, was für die seelische Harmonie notwendig ist, kommt nicht infrage, weil dann die Harmonie nicht mehr gewährleistet ist. Daher ist meine Konfliktfreude nur ein Ergebnis der Sehnsucht nach Harmonie.
Sie haben lange als Historiker an der Universität der Bundeswehr gelehrt. Sind Skandale wie der Fall Franco A. nicht auch die Folge der Abschaffung der Wehrpflicht?
Jenseits der konkreten Fälle hat die Bundeswehr ein strukturelles Problem: die Gewinnung von Personal. Die Wehrpflicht sorgt dafür, dass sich eine Armee nicht verselbstständigt. Die Bundeswehr zieht Leute an, die eine kostenlose militärische Ausbildung möchten. Es droht ein Marsch von Rechtsextreme und Islamisten durch die Institutionen. Der Kopf stinkt nicht von oben, sondern vom Körper her. Ursula von der Leyen hat das offenbar erkannt und wird dafür gescholten. Sonst ruft man immer: „Wehret den Anfängen!“ Mir ist eine Ministerin lieber, die nicht nur Phrasen drischt, sondern den Anfängen wirklich wehrt.
Michael Wolffsohn: „Deutschjüdische Glückskinder. Eine Weltgeschichte meiner Familie“ (dtv, 440 S., 26 Euro). Der Autor stellt sein Buch am Donnerstag, den 11. Mai, um 20 Uhr im Literaturhaus vor