"Hair" im Deutschen Theater: Mehr Schmerz und Stille wagen!
"Kinder, wie die Zeit vergeht", hat meine Mutter immer gerufen, wenn ein Jubiläum nicht nur stattlich, sondern irgendwie auch schrecklich wirkte. So fühlte ich mich auch, als Ron Williams mich vor einigen Monaten darauf vorbereitete, dass in diesem Jahr - 55 Jahre nach der Münchner Premiere von 1968 im Theater in der Briennerstraße - das Musical "Hair" ein Remake oder eine Neuinterpretation oder gar eine Aktualisierung erleben werde: Mein Gott, ist das lange her! Williams selbst hatte damals den Hud gespielt.
Kann man überhaupt das damalige Lebensgefühl wiederaufleben lassen? Gibt es zwischen damals und heute tragfähige Parallelen? Oder will man die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung, die es seit damals gab, triumphal feiern, als ob jetzt alles in Ordnung wäre? Oder möchte man die Rückschläge, die es auch gab, mit dem Zorn von damals anprangern? Sich gar in Selbstmitleid ergehen, weil damals die Stimmung und die Zukunft tatsächlich noch besser waren als heute? Jedenfalls würde es sicher nicht reichen, das alte Musical werkgetreu zu inszenieren und nur mit ein paar aktuellen Bezügen aufzupeppen. Schwierige Aufgabe.
Schließlich hatte ich die Inszenierung von 1968 als Zeitungsreporter miterlebt und voller Spott in der "SZ" beschrieben, weil die damaligen Veranstalter das so genannte Establishment, das im Musical so leidenschaftlich in die Pfanne gehauen wurde, als Zuschauer geradezu unterwürfig umworben und umschmeichelt haben - buchstäblich im Gewand ausgerechnet von Rokoko-Lakaien zur Bedienung des High-Society-Publikums.
Das fand ich befremdlich, weil die berüchtigte Schickeria in der Realität besser behandelt wurde als auf der Bühne. Und auch die Kritik am Vietnam-Krieg blieb mit "Make love, not war" ziemlich wage. Da war die bayerische Schülerpresse, deren Verband ich damals geleitet habe, schon deutlicher, musste das aber mit zahlreichen Verboten durch Bayerns Kultusministerium bezahlen. Wollte hier der etablierte Kulturbetrieb uns tatsächlich protestierende Jugendliche effektvoll in den Schatten stellen? Heute würde man sagen: Das wäre ja "kulturelle Aneignung"!
Trotzdem spürte ich damals schon, dass "Hair" eine Zeitenwende markierte: Schluss mit rassistischer Diskriminierung und verbrecherischem Krieg, sonst gibt es einen unversöhnlichen Kampf nicht nur mit einer Protestkultur, sondern mit den Schwarzen und der Friedensbewegung in aller Welt. Die freie Liebe, die Drogen und Rock'n'Roll waren eher Ausdrucksformen und Zutaten, nicht die politische Substanz. Entsprechend hat Ron Williams, mit dem ich mich damals 1968 beim Interview für den Rest unseres Lebens angefreundet habe, ja auch viele Jahre lang in einem Musical Martin Luther King gefeiert und nicht den Drogenkonsum.
Jetzt also "Hair 23" im Deutschen Theater. Von einem subventionierten Ensemble in Salzburg in einem subventionierten Haus in München. Sieht so radikaler Protest aus? Zweimal immerhin hat die Inszenierung geschafft, Gänsehautgefühl zu vermitteln. Das war, als gleich zu Beginn die Fridays for Future-Generation auftrat mit gekonnten Plakaten und aggressivem Ton gegen die Verantwortlichen des Klimawandels, also unsere Generationen. Das war kein flottes Entertainment, sondern gebotene Schärfe.
Trotzdem würden sich viele der politisierten schwarzen Jugendlichen von damals fragen, ob hier Europas Mittelschichtskinder nachträglich in die Haut damaliger Black Panther schlüpfen wollen. Aber dann war da noch eine zweite Szene: Der schwarze Savio Byrczak fragte als Hud die Europäer, wie sie mit dem tausendfachen Tod von Schwarzen im Mittelmeer leben können. Er, Hud, selbst habe den Untergang eines Schlepper-Bootes nur knapp überlebt.
Da hätte die Botschaft schmerzlich werden können. Aber nein: Nächstes Bild, fetzige Musik, tolle Choreographie, nächster Ohrwurm. Überhaupt: viel Gerenne, Geschrei, viele schrille Farben, wenige ergreifende stillere Töne.
Die Wahrheit ist: Wir haben ein tolles Konzert mit Oldies but Goldies erlebt, großartige Sängerinnen und Sänger gehört, ein starkes Orchester, atemberaubend schnelle und artistische Tänzerinnen und Tänzer in einem faszinierenden Bühnenbild - aber nicht die gelegentlich auch mystische musikalische Stimmung von damals (ist auf youtube noch zu sehen) und schon gar nicht die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung. Das ist wohl der Preis effektvoller Perfektion.
Meine Sorge, dass auch die sexuelle Befreiung von 1968 auf der Strecke geblieben sein könnte, nicht wegen konservativer Zensur, sondern wegen neuer Spießigkeit bei den politisch allzu Korrekten, hat sich so nicht erfüllt: Es gab - das war 1968 die zentrale Vorfrage - viele "Nackerte", aber dabei nur wenige weibliche und dafür mehr männliche Geschlechtsteile, weil das an mehr oder weniger toxische Männlichkeit und nicht so sehr an Opfer-Rollen denken lässt. Das wird man also auch in zehn Jahren noch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zeigen können.
Was bleibt von "Hair 23"? Sicher nicht die politische Botschaft des Jahres 2023, weil die ja auch bei Krieg und Frieden reichlich unbeholfen war: Putin bekam zwar mit seiner wortwörtlich übernommenen Kriegsrechtfertigung (von einer Zuschauer-Tribüne aus) sein hartes Urteil ab, aber dann keinen weiteren Gedanken, denn: "The Show must go on".
Aber ansonsten wird viel von "Hair" bleiben: Die Verbindung von Rock und Pop und gesellschaftlichem Unbehagen, der Protest gegen Diskriminierung und Krieg, die Sehnsucht nach Liebe, großartige Songs, die schon 55 Jahre überdauert haben, und die Erinnerung an große Stimmen, die es ebenso tun werden.
Deutsches Theater, bis 30. Juli, Karten Tel: 54818181, ab 29 Euro