Mecklenburg am Lido
Christian Petzold präsentiert seinen Beziehungsthriller „Jerichow“ beim Filmfestival in Venedig und erntet nur müden Applaus.
Italiener pflegen eine heitere Hassliebe zu Deutschland. Im eigenen Staat, der sich selbst als faul, korrupt, wurmstichig empfindet, hegt man eine gewisse Achtung gegenüber dem ordentlichen, vermeintlich prosperierenden und in Italien verliebten Deutschen. Das gilt auch für das Kino: Regisseur Edgar Reitz zum Beispiel genießt mit seinen „Heimat“-Epen (seit den 80er Jahren) immer noch Bewunderung. Man liebt das Ehrliche, Harte an uns. Und so hätte auch Christian Petzold gute Karten gehabt, mit seiner spröden Ost-Geschichte „Jerichow“ große Aufmerksamkeit zu ernten. Aber es gab nur müden Applaus.
„Jerichow“ in Mecklenburg ist ein Ort, den Eierköpfe als einen Schauplatz aus dem deutsch-deutschen Epos „Jahrestage“ von Uwe Johnson gespeichert haben. Jetzt spielt sich an diesem Neue-Bundesländer-Ort eine Dreiecksgeschichte zwischen Menschen ab, die dem Leben entfremdet sind.
Mordplan geschmiedet
Es geht um einen gestrandeten Ex-Afghanistan-Bundeswehrsoldaten (Benno Fürmann) und einer Ex-Kriminellen und Ex-Bardame (Nina Hoss), die an einen sympathischen Türken (Hilmi Sözer) gekettet ist, der wiederum ein regionales Imbissbuden-Imperium aufgebaut hat. Die Geschichte läuft auf einen Mordplan der beiden heimlich verliebten Deutschen hinaus – der türkische Ehemann steht den beiden im Wege.
Christian Petzold erzählt das spröde, versäumt es, wichtige psychologische Wandlungen der Figuren dem Zuschauer nachvollziehbar zu machen, riskiert sogar peinliche Szenen wie aus einem billigen Karl-May-Festspielwestern mit einem Mörder, der sich im Gebüsch versteckt.
Dilettatismus in Reinkultur
Sehgewohnheiten ändern sich, Autorenfilmer-Charme und neo-realistisch neudeutsche Schicksale können durchaus Begeisterung wecken, wie in Cannes Andreas Dresens auch witziges Alterssex-Drama „Wolke 9“ (ab 4. September in unseren Kinos) bewiesen hat. „Jerichow“ dagegen wirkt – bis auf die unbeirrbaren Schauspieler – dilettantisch und bleibt auch dem offenen cinéastischen Festival-Zuschauer fremd.
Dabei sind gerade am Lido Experimente willkommen, sofern sie vital sind. Eben wie Takeshi Kitanos die gesamte Kunstgeschichte parodierendes, farbintensives, frei und witzig selbst porträtierendes Werk „Achilles und die Schildkröte“. Ein Film, der einen Jungen über die Studentenzeit bis ins mittlere Alter (Kitano) begleitet. Sein Leben lang ist er Künstler – und dafür geht er über Leichen und bis zur Selbstzerstörung. So scheitert er – nicht an mangelndem Talent, sondern am Zufall und am Kunstmarkt.
Das kann auch im Medium Film passieren. Aber um das zu verhindern, sind gerade in Venedig viele Erstlingswerke eingeladen, was zwar den Glamourfaktor (siehe Seite 20) schwächt, nicht aber die Chancen auf ein starkes, der Zukunft zugewandtes Programm.
Adrian Prechtel