Marstall: "Athena" von Robert Borgmann
Kassandra hat gegen Ende des dreistündigen Exerzitiums auch noch einen Auftritt. Sie hatte den nachhaltigen Tragödien-Cluster um den Fluch des Hauses der Atriden einst vorausgesagt. Was ein Happyend sein könnte, wenn die Spirale aus Rache und Gewalt durch neue politische Spielregeln durchbrochen wird, kommentiert die Seherin (Franziska Hackl) vernichtend: "Und die Demokratie?", fragt sie und ihre Antwort ist ein resigniert furzartiges Geräusch. Auch Agamemnon - wie Kassandra längst ermordet - ist die neue Welt nicht ganz geheuer, denn "ich bin ein Mensch. Ich habe Angst".

Schwerer Streit
Was ist passiert? Agamemnon (Max Mayer) hatte seine Tochter Iphigenie geopfert, um günstige Winde für die Überfahrt nach Troja zu erflehen. Als er siegreich heimkehrte, rächte seine Frau Klytämnestra (Juliane Köhler) den Tod der Tochter und ermordete ihren Mann. Sohn Orest (Thiemo Strutzenberger) wiederum rächte den Tod des Vaters und brachte seine Mutter um. Im Tempel der Göttin Athena bittet er um ein mildes Urteil, denn er sieht sich nach alter Väter und Mütter Sitte im Recht.
Regisseur Robert Borgmann titelte seine Version der "Orestie" von Aischylos zu "Athena" um, und die Göttin, die "kein Gott an Weisheit übertrifft", hat ein Problem: "Ein schwerer Streit - zu schwer für einen Sterblichen. Und auch der Göttin ist es nicht erlaubt, in einem Rechtsstreit zu entscheiden, wo Hass den Hass anklagt und Mord sich gegen Mord verteidigt".
Bedrohte Demokratie
Dieser Sprung in eine höhere Stufe der Zivilisation, weg aus der Götterwelt und hin zu einer Menschheit aus verantwortlich handelnden Individuen, ist allerdings keineswegs optimistisch und zukunftsfroh. Borgmanns Inszenierung denkt die aktuellen Bedrohungen einer rechtsstaatlich und demokratisch verfassten Staatsform bereits mit. In den beiden Pausen sind Warnungen vor dem Scheitern der Demokratie ebenso zu hören wie das faschistoide Gebell von Donald Trump. Max Mayer wurde von Kostümbildnerin Birgit Bungum in ein Nacktsuit mit schwellendem Bauch und unter lange graue Haare gesteckt. Die Göttin ist alt geworden und müde. Schließlich geht sie ins Wasser.

"Athena" im Marstall ist der Abschluss des Residenztheater-Projekts um den griechischen Prinzen Orest. Borgmanns "musiktheatrale Installation" ist nach "Die Fliegen", inszeniert von Elsa-Sophie Jach und "Agamemnon" von Ulrich Rasche, der formal radikalste Zugriff auf den Stoff. Der Abstraktionsgrad ist hoch und die Entfernung von einem erzählenden Theater weitestmöglich.
Orest fällt ins Wasser
Als sein eigener Bühnenbildner baute der Regisseur einen hermetischen Raum aus einer Wasserfläche, in der wahlweise gewatet, mit einem Schlauchboot gedümpelt oder auf der ein festliches Dinner mit düsteren Tischgesprächen serviert wird. Manchmal fällt Orest auch einfach um ins flache Nass. Auf säulenartigen Podesten zelebrieren Orest, der in seinem 35-minütigen Anfangsmonolog zuweilen auch seine Schwester Elektra ist, und Athena ihre Textflächen sehr langsam in somnambuler Entrücktheit.

Die Erinnyen, die Rachegöttinnen (Felicia Chin-Malenski, Franziska Hackl, Juliane Köhler), tragen modische schwarze Steppjacken und daddeln hingebungsvoll auf ihren Smartphones. Im dritten Teil schwebt Franziska Hackl als Iphigenie ein wie ein Deus-ex-Machina, der kraftlos in seinem Fluggeschirr hängt, denn die Götter haben gerade die Macht an die Sterblichen abgegeben, was auch den dramaturgischen Kniff zur Lösung des Konflikts in der Tragödie erübrigt.
Der Regisseur ist am Rand der Spielfläche anwesend und umhüllt die Szene mit an- und abschwellenden elektronischen Sounds. Robert Borgmann ist dabei die wirklich tragische Figur des Abends. Mit seinem entfesselten Kunstwillen hat er den Zugang des Publikums zu seinem flammenden Requiem für unsere Utopie von Freiheit, Recht und Gerechtigkeit so unüberwindlich verrammelt, dass die vielen grandiosen und immer wieder auch verstörenden Theaterbilder in Beliebigkeit wirkungslos verdampfen.
Marstall, 17., 18., 24., 25. März, 4., 5. April, 20 Uhr, sonntags 19 Uhr, Telefon 2185 1940
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