Gastbeitrag

Maria Callas als irritierende Ausnahmeerscheinung

Leidenschaft kennt kein Verfallsdatum: Callas-Biografin Eva Gesine Baur erklärt zum 100. Geburtstag die Gegenwärtigkeitder Diva
von  Eva Gesine Baur
"Callas - Paris, 1958": Der neu restaurierte Film wird wieder im Kino gezeigt. In München ist er im ABC, Gloria und Arri (jeweils OmU) und im City, Solln und Rex in deutscher Fassung zu sehen.
"Callas - Paris, 1958": Der neu restaurierte Film wird wieder im Kino gezeigt. In München ist er im ABC, Gloria und Arri (jeweils OmU) und im City, Solln und Rex in deutscher Fassung zu sehen. © Fonds de Dotation Maria Callas

Die Frage klingt pervers, gerade wenn eine Callas-Biografin sie stellt: Warum interessiert Maria Callas uns heute überhaupt noch? Es muss doch Gründe dafür geben, dass sie die lebendigste Tote ist. Dass eine Künstlerin wie Marina Abramovic das Stück "Seven Deaths of Maria Callas" verfasst hat und damit durch die großen Opernhäuser der Welt tourt. Dass ein Star wie Monica Bellucci stolz darauf ist, in ein Originalkleid von Callas zu passen und auf der Bühne deren Briefe vorlesen zu dürfen. Dass Angelina Jolie unbedingt die alternde Callas in einem neuen Film spielen will. Dass Hunderte sich darum reißen, als Maria Callas in Terrence McNallys Theaterstück "Masterclass" aufzutreten. Dass jeder Fernseh-, jeder Rundfunksender, jede Tageszeitung am heutigen 2. Dezember der Callas eine Hommage widmen und Hotels, in denen sie übernachtet hat, damit werben. Nur: Warum?

Oper ist eigentlich ein Minderheitenprogramm

Vieles spricht dafür, dass der 100. Geburtstag von Maria Callas die Öffentlichkeit so wenig interessiert wie der von Renata Tebaldi letztes Jahr, ihrer ebenso gefeierten Konkurrentin. Maria Callas war eine Opernsängerin und hat nie etwas anderes als Oper gesungen. Angeblich aber ist die Oper eine bedrohte Kunstform. In Deutschland, dem Land der höchsten Opernhausdichte, besuchen nur 8 der Bevölkerung Prozent eines davon.


Zwar stand das Privatleben von Maria Callas in den 50ern und 60ern im Zentrum des medialen Interesses. Aber wen interessiert der Klatsch von gestern? Sie hatte eine Stimme, die von jedem sofort erkannt wurde und drei Oktaven umfasste. Aber diese Stimme wurde von vielen als hässlich, gurgelnd, schlingernd, sauer bezeichnet und ihre Gesangstechnik als fehlerhaft. Heute gibt es Sängerinnen, die vollendet singen. Callas galt als Ikone, nur schön war sie nie, die Nase zu groß, die Beine zu stämmig und auf Schnappschüssen an Bord der Luxusjacht Christina ist sie alles andere als fotogen.

Ihre Darstellungskunst galt als revolutionär, nur haben wir davon fast keine filmischen Zeugnisse. Doch offenbar besitzt sie jene Kraft, die fast jeder erträumt und niemand trainieren kann: Anziehungskraft. Und es klingt paradox: Die ungebrochene Anziehungskraft verdankt Callas der Tatsache, dass sie nicht perfekt war. Weder als Künstlerin noch als Mensch.

Sicherheit und Perfektion? Callas wollte Leidenschaft!

Das Ziel jeder Karriere heute sind Sicherheit und Perfektion. Beides aber verträgt sich nicht mit dem, was Maria Callas jeden durch ihre Kunst erleben lassen wollte: Leidenschaft. Passion, die immer auch die Bereitschaft verlangt, den Passionsweg zu gehen. Wir sehnen uns nach Leidenschaft und fürchten uns zugleich davor. Wir ahnen, dass sie uns dazu bringen kann, gegen Regeln zu verstoßen, Versprechen zu brechen und unsere Sicherheit aufs Spiel zu setzen.

Hässliche Töne, klirrende Stimme

Maria Callas riskierte alles, um zu erreichen, worum es ihr ging: die Menschen mit ihrem Gesang, mit ihrem Auftritt zu ergreifen und mitzuschleifen bis zum Schluss. Sie riskierte es, hässliche Töne zu singen, ihre Stimme überzustrapazieren, maulwurfsblind mit ihren fast neun Dioptrien auf der Bühne halsbrecherische Treppen hinunter zu rennen, sie riskierte es, ausgebuht und niedergebrüllt zu werden, als erste Frau auf einer Opernbühne die Faust zu ballen und die Medea zu einer ihrer wichtigsten Rollen zu erheben, die Partie einer Mehrfachmörderin, die sogar die eigenen Kinder umbringt. Leidenschaft will alles ganz.


Maria Callas sang bereits mit achtzehn Jahren die Tosca in Athen mit einer künstlerischen Reife und einer Stimmgewalt, die Publikum wie Kritik die Fassung raubten. Ökonomisches Denken verträgt sich nicht mit Leidenschaft. Partien wie die der Gilda in "Rigoletto", der Abigaille in "Nabucco", der Cio-Cio San in "Madama Butterfly" sang Callas nur zwei, drei Mal. Dieses Alles-Ganz der Leidenschaft galt auch für ihr Repertoire: es reichte von Wagnerpartien bis zu Beethoven und Mozart, von Millöcker bis zu Cherubini, Spontini, Bellini, Rossini, Verdi und Puccini. Leidenschaft rechnet nicht, sie verschwendet sich. In Proben sang Maria Callas immer voll aus. Was keine andere Stimme länger als ein paar Jahre ausgehalten hätte. Leidenschaft sagt nicht: Ich könnte vielleicht. Sie sagt: Ich muss!

War die Callas eine schwierige Person?

Das bedeutete für Callas, immer das Äußerste zu geben und zu wagen. Sie war nimmersatt, was die Anzahl der Proben anging und verstand sich am besten mit den Kollegen und Kolleginnen wie Dirigenten, die genauso dachten, Bernstein zum Beispiel. Die widersprachen dem Gerücht, sie sei schwierig. Dimitri Mitropoulos, Musikdirektor der New Yorker Philharmoniker, sagte: Mit echten Künstlern hat Callas niemals Probleme.

Ihre Stimme war ihre Waffe

Nur, was brachte Maria Callas dazu, wider jede Vernunft diese extreme Karriere zu leben zwischen Triumph und Niederlage? Da gab es kein vermögendes Elternhaus, das sie gefördert und aufgefangen hätte, keine berühmten Unterstützer eines Wunderkinds, keine Eliteschule, kein betörendes Aussehen, kein bestechendes Charisma.

Da gab es erst einmal nur ein Kind griechischer Einwanderer, das in New York zur Welt kam, das dreizehnjährig ohne den Vater, nur mit Mutter und Schwester, nach Athen umzog. Eine junge Frau, die mit einundzwanzig wieder in die USA zurückkehrte, mit dreiundzwanzig in Verona ihre italienische Karriere startete und, noch keine dreißig, die Scala triumphal eroberte. Da gab es diesen Star, der, als der Zenit seiner Karriere überschritten war, nach Paris umzog. Das war Maria Callas, die sich ein Leben lang heimatlos fühlte, überall als eine Fremde. In New York wurde bemängelt, dass sie Amerikanisch mit griechischem Akzent sprach, in Griechenland, dass ihr Griechisch einen amerikanischen Akzent hatte, der auch die Italiener an ihrem Italienisch störte und die Franzosen an ihrem Französisch.


Ihr Heimatland, ihr Zuhause war die Musik, die Musik war ihre Sprache, in der sie alles ausdrücken wollte und konnte. Sie kenne die Partitur einer Oper besser als jeder Dirigent, sagte der Dirigent Carlo Mario Giulini. Aus der Musik bezog sie ihre Stärke. Meine Stimme, sagte sie, ist meine Waffe, nur wenn ich über sie verfüge, kann ich mich verteidigen. Verteidigen musste sie sich oft. Gegen Neider, Unterstellungen, gegen Kritker, die nicht verstanden worum es ihr ging, gegen bezahlte Buhrufer in der Oper.

Mit dieser Waffe fühlte sie sich allen gewachsen, und kampfbereit war sie, beruflich wie privat. Ein Opfer gedachte Maria Callas nie zu sein und Hemmungen, zu widersprechen, kannte sie niemals. Ein Engagement an der Met lehnte sie ab, weil die Inszenierung ihr zu spießig war. Den Neffen des Papstes verklagte sie, weil er behauptet hatte, mit Nudeln einer Firma, der er vorstand, habe sie ihre Traumfigur gewonnen. Sogar mit dem Papst persönlich legte sie sich an, als Pius XII., der es unter seinem Namen Eugenio Pacelli als Wahlmünchner nur ein paar Minuten von seiner Nuntiatur in der Brienner Straße zur Oper hatte und dort viel Wagner hörte, ihr einreden wollte, man dürfe Wagner auch in Italien nur auf Deutsch singen. Maria Callas war anderer Meinung, in einer Zeit ohne Übertitel aus gutem Grund: Wenn keiner verstehe, was auf der Bühne los sei, und die Geschichten Wagners waren in Italien den meisten unbekannt, kapiere das Publikum nichts.

Das Ende der Gleichgültigkeit

Maria Callas war eine Künstlerin, die das Ende der Gleichgültigkeit verkörperte, jener Krankheit, die lähmt, blind und taub macht und von denen, die daran leiden, nicht als Krankheit erlebt wird. Das machte sie angreifbar. Genau das machte sie aber auch unverwechselbar und unvergessbar. Leidenschaft kennt kein Verfallsdatum, und wer sich Maria Callas nur einmal versuchsweise auf youtube anhört, wie sie als Königin der Nacht "Der Hölle Rache" heraufbeschwört oder als Cio Cio San in "Un bel di verdremo" schmerzvoll vom großen Glück träumt, ist sofort gepackt.


Wer Fotos von ihr sieht, die sie mit ausgestrecktem Arm befehlend, aufgelöst fliehend, angstvoll schreiend oder sterbend zeigen, begreift sofort, was Ikonen ausmacht: Diese Bilder sind nicht zu löschen aus unserem Gedächtnis. Der Preis, den Callas dafür zahlte, war hoch und die Quelle ihrer Intuition tragisch: Maria, die Frau, und Callas, die Künstlerin, waren zwei Wesen, die nie zusammenfanden. Der Konflikt, der Tragödie ausmacht, lebte in ihr.

Das erkannte schon Ingeborg Bachmannn, die sie 1956 in der Scala durch Zufall als Violetta erlebte: "Es gibt dort eine Sängerin, die Maria Callas heißt und singt und spielt, als hätte sie einige Teufel und Engel in sich." Und Bachmann erfasste: Da steht ein gefährlicher Mensch auf der Bühne. Ein Mensch, der gefährlich sein wollte und sich selbst gefährdete, um zu ergreifen.

Der Kampf gegen die Gleichgültigkeit ist auch heute noch gefährlich. Maria Callas ist deshalb absolut unentrinnbar gegenwärtig.

Eva Gesine Baur: "Maria Callas - Die Stimme der Leidenschaft" (C.H. Beck, 510 Seiten, 29 Euro)

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