Marcel Reich Ranicki: Das (g)rollende (MR)R der Literatur

Literaturpapst, Versöhner und Spalter, gefürchtet, geachtet, geliebt: Mit 93 Jahren ist  der große Bildungsbürger MRR in Frankfurt gestorben
von  Adrian Prechtel

 Literaturpapst, Versöhner und Spalter, gefürchtet, geachtet, geliebt: Mit 93 Jahren ist  der große Bildungsbürger MRR in Frankfurt gestorben

Das ist ein schlechtes Buch!“ In diesem Satz ist (fast) alles drin: Ranicki, der letzte Großkritiker, dessen Meinung noch in Feuilletons und Buchhandlungen einschlug. Der Mann, der diesen Satz sprach, war ein Medienereignis, weil er ein unfassbar großes Fernsehpublikum bannte, obwohl da nur drei Herren und eine Frau in Sesseln saßen. Wobei dieses „Literarische Quartett“ letztlich doch ein Trio mit dem Literaturpapst in der Mitte war. Und da ist dieser charakteristische, überengagierte Stimmklang, leicht lispelnd, aber mit überprononciert rollendem „R“, der uns weiter amüsiert in den Ohren klingen wird. Jetzt ist Marcel Reich-Ranicki mit 93 Jahren nach einer Lungenentzündung in Frankfurt gestorben.

Reich-Ranicki und die Deutschen

Warum aber ist dieser Mann zu unserer Identifikationsfigur geworden – gefürchtet, geschätzt und letztlich geliebt? Da kam 1958 aus Polen ein Mann zu uns, der nur knapp und unter grauenhaften Umständen dem Warschauer Ghetto entkommen war. Aber er erklärte, dass es ausgerechnet die deutsche Kultur gewesen sei, die ihm psychisch – und fast auch physisch – das Überleben gerettet habe. Da waren die Deutschen unvorstellbar barbarisch gewesen, aber ihr kultureller Dichter- und Denker-Kern – so erlaubte er uns zu denken – war unberührt geblieben. So hat vor allem Reich-Ranicki – trotz glasklarer Sicht auf die Geschichte – in seiner großen Persönlichkeit das deutsche Bürgertum entlastet und versöhnt. Wunderbarer Meilenstein dabei war seine Autobiografie „Mein Leben“ (1999), die mit bisher 1,2 Millionen verkauften Exemplaren ein Bestseller wurde und jetzt wieder werden wird. Es ist die Geschichte des Jungen, der am 2. Juni 1920 im polnisch-pommerschen Wloclawek in eine jüdische deutsch-polnische Familie geboren wird. Ab 1929 lebt er bei Verwandten in Berlin, besucht das Gymnasium, wird 1938 nach Polen abgeschoben und entkommt – nach der deutschen Besetzung und Einweisung in das Warschauer Ghetto – dem sicheren Tod durch Flucht vom Sammelplatz zur Deportation ins KZ Treblinka. Kurz zuvor hat er seine spätere Frau Teofila kennen gelernt. „Tosia“ stirbt 2011 nach fast 70 Ehejahren.

Reich-Ranicki und die Literatur

Dieser Versöhner war aber auch ein belebender Spalter, nicht nur durch seine FAZ–Artikel, sondern vor allem im „Literarischen Quartett“ – wenn er Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek oder den Gast anging, „mehr Erotik“ in der Literatur forderte, keinen „Schlappschwanz“ als Helden haben wollte und überhaupt ein relativ klassisches Verständnis von Literatur pflegte. Dabei hatte er auch die aufbrechenden Literaten der „Gruppe 47“ in den 60ern als eingeladener Kritiker begleitet. Und „Lauter Verrisse“ heißt nicht zufällig eine Anthologie seiner Rezensionen. Gemeinsam mit anderen Literaturfreunden initiierte Reich-Ranicki 1977 den Ingeborg-Bachmann-Preis, der rasch zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Literaturwettbewerbe wurde. Denn wenn er sagte, „das ist ein schlechtes Buch“, war es Hassliebe und genauso konnte er mit Inbrunst und gedehntem „i“ sagen: „Ich liebe dieses Buch!“ So konnte nur ein echter, einer der letzten großen Bildungsbürger sprechen. Dabei war Reich-Ranicki gegenüber seinem jeweiligen Gegenüber letztlich nie arrogant, aber anspruchsvoll und von seiner Sache begeistert und überzeugt. Da war es nur konsequent, allen einen verbindlichen Überblick in der unübersichtlichen Fülle der deutschen Literatur geben zu wollen: „Der Kanon. Die deutsche Literatur“ erschien 2006, von ihm herausgegeben.

Reich-Ranicki und die Medien

Auftritte von Marcel Reich-Ranicki waren Medienereignisse und wirken rückblickend wie Schlusspunkte einer alten Medienlandschaft. Da schafft es ein älterer Mann der klassischen Bildung eine Literatursendung im TV zur Kultsendung zu machen. Ab 25. März 1988 wurden hier 385 Buchtitel besprochen. „Das Literarische Quartett“ bestimmte den Diskurs und die Bestsellerlisten. Und als am 14. Dezember 2001 die Reihe endete, war eine TV-Ära unwiederholbar zu Ende – das bemerkten auch die Intendanten der großen Sendeanstalten wie das ZDF. Für sein Lebenswerk und genau diese Sendung sollte Marcel Reich-Ranicki vor genau fünf Jahren den Deutschen Fernsehpreis bekommen. Er nutzte diese Sendung, für ein Fanal und lehnte mit dem Hinweis auf den „Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben“, die Auszeichnung ab. Moderator Thomas Gottschalk bot ihm daraufhin eine Diskussion zur Qualität des deutschen Fernsehens zusammen mit den Intendanten von ARD, ZDF und RTL an. Der alte Kämpfer für Niveau nahm an. Die Intendanten kniffen, Gottschalk diskutierte allein mit Reich-Ranicki, und das ZDF schob die Ausstrahlung ins Spätprogramm. „Der Tod ist ein Schlusspunkt“, hat Reich-Ranicki noch vor einem Jahr gesagt. Sein Nachhall wird das Gegenteil beweisen.

 

 

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.