Mahner in der humorfreien Zone
Günter Grass begleitet das Erscheinen seines Tagebuchs aus dem Wendejahr 1990 mit der Forderung nach einer neuen Verfassung
In Günter Grass’ Parallelwelt erzittern Politiker und Industriellenverbände vor den mahnenden Worten des Dichters mit der Pfeife, da warten Präsidenten und Kanzler sehnsüchtig auf ein Essen mit oder einen Essay von Deutschlands einzigem lebenden Literaturnobelpreisträger.
In der wahren Welt aber haben sich auch die Leser seit seinem SS-Geständnis (er war als Minderjähriger in den letzten Kriegsmonaten Mitglied) von der moralischen Instanz und personifizierten Selbstgerechtigkeit abgewendet. Der zweite Teil seiner Biografie, „Die Box“, verkaufte sich wesentlich schlechter als die zum Skandal hochgeschriebenen Lebensbekenntnisse „Beim Häuten der Zwiebel“, auch sein Verlag hat die Strategie geändert. Bekamen Journalisten früher vom Steidl Verlag Wochen vor dem offiziellen Erscheinen die Grass’schen Romane zugeschickt, so werden sie heute zeitgleich mit dem Buchhandel beliefert, gute Journalistenfreunde mit Hang zur haltlosen Bewunderung natürlich ausgenommen.
So gelang es schon bei „Die Box“, mittels der Deutschen Presseagentur (dpa) ein Lob in alle Redaktionen zu schicken. Auch das egozentrische Umkreisen der eigenen Befindlichkeit, das Grass in seinem gestern erschienenen Tagebuch von 1990 „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“ ausbreitet, ist der dpa eine „literarisch und politisch lohnende Lektüre“. Man belieferte die Redaktionen mit Lobeshymne und zweiteiligem Interview. „Kaum jemand lag mit seinen Analysen so oft und so gründlich daneben, und kaum jemand wird für sein ständiges Danebengreifen so verehrt wie Grass“, hat Henryk M. Broder einmal über den von ihm wenig verehrten Dichter geschrieben. Wäre Grass auch nur minimal für Humor oder Selbstironie empfänglich, er hätte kein treffenderes Zitat seinem Tagebuch voranstellen können.
Mahnen, warnen, schwadronieren
Dort nämlich warnt er vor der Wiedergeburt eines für die Nachbarländer gefährlichen Groß-Deutschlands und macht die schnelle Einführung der D-Mark verantwortlich für den Zusammenbruch der vollkommen maroden DDR-Wirtschaft. Im Interview versteigt er sich sogar zu der These, die Menschen seien durch die Währungsunion „in verstärktem Maße“ in den Westen gezogen. Sein Urteil: Es sei eine Einheit auf Pump gewesen, begleitet von einer historisch bisher beispiellosen Enteignung und Bevormundung der ostdeutschen Bevölkerung.
Aber der Held der schleswig-holsteinischen Gemeinschaftskundelehrer hat 20 Jahre nach dem Mauerfall ein Gegenmittel parat. Eine neue Verfassung muss her: „Ich will, dass unsere Demokratie, der Erosionserscheinungen nachzuweisen sind, gründlich repariert wird“, sagt Grass, der die Macht von Lobbyisten und Banken einschränken möchte. Da überrascht es fast, dass Grass es anderen überlassen möchte, diese Verfassung zu schreiben.
Volker Isfort