Mach’s wie Gepard und Antilope!
Bin ich blöd, wenn ich mich im Museum nicht wohlfühle? Der Münchner Glyptotheksdirektor fordert „das Ende der Überforderung!“ und hat am Buch „Kunst für Einsteiger“ mitgeschrieben
Man steht im Museum vor einem Bild und ist ratlos. Auch die kurzen Infos auf dem Schildchen helfen nicht weiter. Der Direktor der Münchner Glyptothek, Raimund Wünsche, hat – zusammen mit dem Künstler Flatz – eine Fernsehserie beim SWR gemacht. Daraus ist das Buch „Kunst für Einsteiger“ entstanden.
AZ: Herr Wünsche, was ist der Kapitalfehler im Museum?
RAIMUND WÜNSCHE: Pfennigfuchserei! Diese Haltung: Nur weil ich jetzt sieben Euro gezahlt habe, muss ich alles gesehen haben!
Warum?
Da gibt’s das schöne Beispiel aus dem Tierreich, wenn ein Gepard jagt und die Antilopen-Herde vor sich hat: Rennt er drauf los, stiebt alles auseinander, er rennt hin und her und kriegt nichts. Wenn er sich aber eine einzelne Antilope aussucht und sie isoliert, packt er sie auch!
Was heißt das für den Museumsbesuch?
Die Leute sausen durch den Louvre und kommen genauso wieder raus wie sie reingegangen sind mit einer Verweildauer von ein oder zwei Sekunden pro Bild. Da hätte man auch Zuhause bleiben können. Man muss die Leute zum Stillstand bringen!
Also, was sind Ihre goldenen Museumsregeln?
Zahlen, rumgehen und sich einen Überblick verschaffen, und dann zu zwei oder drei Werken zurückkehren, die einem aufgefallen sind.
Aber jetzt geht das Problem doch erst los: Man weiß zu wenig über Zeit, Umstände und den Künstler.
Klar, bei über 2000 Jahren europäischer Kunst sagt jeder: „Mei, da kenn’ ich mich ja eh’ nicht aus!“ Und unter einem Bild findet man dann eine super-kurze Beschriftung, wie: „Opferung des Isaak“.
Und ist so klug wie zuvor!
Der Direktor der National Gallery in London ist mit Studenten durch sein Museum gegangen und wurde gefragt, warum denn in der Kunst so viele Mütter mit Kindern abgebildet sind. Die kannten die Maria-und-Jesus-Geschichte nicht mehr. Das ist extrem. Aber da kann eine Fernsehserie oder ein Buch eben ganz einfach Aufklärung leisten.
Wie?
Man erklärt alles mit Werken, von denen die Leute schon mal was gehört haben – wie die „Mona Lisa“, weil die ja auch oft in der Werbung vorkommt. Grundbegriffe zu erklären, ist leicht, und danach hat jeder Lust, selbst genauer hinzuschauen. Ich kann in meiner Glyptothek jedem innerhalb von einer halben Stunde die drei klassischen Epochen – Archaik, Klassik, Hellenismus – erklären, und er wird vor jeder Statue sagen können, wozu sie gehört. Und wenn man mal ein Thema kennt, wie zum Beispiel eine Venus-Darstellung, dann gibt es diesen aufmunternden Aha-Effekt, wenn ich ihm wiederbegegne.
Wo gibt es in München ein gutes Beispiel für Ihr Modell?
Die Alte Pinakothek macht oft Sonderausstellungen zu einem einzigen Werk – zur Zeit „Andrea del Sarto/Die Heilige Familie“ – und vergleicht mit anderen Werken, zeigt Zeichnungen und ordnet alles kunstgeschichtlich ein.
Aber muss denn alles immer so kunstgeschichtlich sein?
Man kann ein Bild natürlich nicht nur als Kunstwerk lesen. Vielleicht fällt mir bei einem Barock-Bild etwas über den Dresscode auf wie: Die sind ja rumgelaufen wie im Fasching! Und dann denke ich nach, wie grau wir selbst rumlaufen! Oder: Ich schaue ein Breugel-Bild an und merke die Klimakatastrophe durch die Schlittschuhläufer, weil da in Holland im 16. Jahrhundert die Kanäle zugefroren sind. Oder an der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts kann man sehen, wie sich Oberbayern verändert hat. Das sind alles völlig legitime Gedanken, zu denen Kunst anregen kann.
Wird es in Zeiten von Reizüberflutung und Action ein Museumssterben geben?
Nein, junge Leute sitzen doch auch heute genauso im Coffee-Shop wie man früher im Kaffeehaus saß.
Ist moderne Kunst schwerer zu vermitteln?
Nein, die angebliche Hausfrauen-Haltung – Das soll Kunst sein? Das kann doch jedes Kind! – ist vorbei. Wenn man Andy Warhols „Campbell’s Tomato Soup“-Büchse damit erklärt, dass hier Kunst mit unserem Konsum-Begriff spielt, wird es spannend. Und wenn man in die Sammlung Brandhorst geht, sieht man doch auch nicht nur Kunstkenner um sich.
Adrian Prechtel
„Kunst für Einsteiger“ (Belser Verlag, 176 Seiten, 130 Abbildungen, 19.95 Euro)