Lust und Leiden an der Isar
Franz Kafka wurde vor 125 Jahren in Prag geboren – und träumte zeitweise auch vom Leben in München, wo er sich mehrmals, mit unterschiedlichem Erfolg, aufhielt.
Wenige Schriftsteller sind so mit Städten verankert wie James Joyce mit Dublin oder der heute vor 125 Jahren geborene Franz Kafka mit Prag. Dabei hat Kafka nicht nur eine Weile von einem Studium in München geträumt – und sogar ganz kurz ins Münchner Leben hineingeschnuppert. Auch für seine schriftstellerische Karriere verbinden Kafka und München einige Ereignisse, wie Alfons Schweiggert in der reich illustrierten Broschüre „Franz Kafka in München“ (alliteraverlag, 12.80 Euro) zeigt.
Da Kafka den Muff der altehrwürdigen Prager Universität (gegründet 1348) verabscheute, übte das liberalere und kulturbesessene München einen großen Reiz auf ihn aus. „Ich fahre (...) nach München, studieren, ja studieren“, jubelte er bereits 1902 in einem Brief an einen Freund, aber es dauerte dann doch noch ein bisschen, bis er die Reise antrat. Vermutlich von Dienstag, 24. November, bis Samstag, 5. Dezember 1903, hielt er sich zum ersten Mal an der Isar auf. Schon damals gönnten sich die Münchner opulente Opernfestspiele.
Eine Stadt voller Lebenslust
Die Stadt bebte vor Lebenslust, wurde zu einer Hauptstadt der Moderne, zumal auch ein Magnet für alle Kreativen der Musik, der Malerei, der Literatur. In den Biergärten, Speiselokalen, Cafés oder Theatern wimmelte es von Berühmtheiten – Marc, Macke, Kandinsky, Klee, George, Wedekind, Morgenstern, Feuchtwanger. Ganz zu schweigen von jenem Russen Uljanow, der ein guter Schachspieler war und vor allem im Café saß, bis er Jahre später unter dem Namen Lenin in der Weltgeschichte auftauchte.
Von der Pension „Lorenz“ in der Sophienstraße aus streifte Kafka zwei Wochen lang durch die Stadt, durch Biergärten und Cafés. Am zweiten Tag notierte er „wunderbares München“, aber ein bereits seit einem halben Jahr in der Stadt weilender Freund meldete sich nicht wie vereinbart, um Kafka mit Münchnern bekannt zu machen. Fünf Karten schrieb Kafka in wenigen Tagen an ihn, bekam keine Antwort und reiste schließlich erzürnt zurück nach Prag, um dort sein juristisches Staatsexamen zu machen.
Versöhnlicheres gibt es aus dem Jahr 1908 zu berichten: In Franz Bleis Münchner Zeitschrift „Hyperion“ wurde Kafkas erster Text veröffentlicht. Weitere folgten, aber die Zeitschrift musste schon 1909 wieder eingestellt werden.
Ein „grandioser Misserfolg“
Acht Jahre darauf hatte Kafka zusammen mit seinem Freund Max Brod auf der Reise nach Zürich einen halbstündigen München-Aufenthalt. Bei Dunkelheit und Regen rasten sie per Taxi zwanzig Minuten durch die Stadt, Kafka erkannte nichts wieder. 1916 schließlich fuhr der Meister der Schreckensvisionen ein letztes Mal in die bayerische Metropole, um eine seiner zwei überlieferten öffentlichen Lesungen zu geben und das schwierige Verhältnis zu seiner aus Berlin anreisenden Verlobten Felice Bauer zu klären. Ein „grandioser Misserfolg“, wie er später schrieb.
Eine „Tropische Münchhausiade“ von Dr. Kafka im Kunstsalon Goltz (Briennerstraße 8) hatte die „Münchner Zeitung“ für den 10. November 1916 angekündigt. Doch hinter der „schmutzigen Geschichte“, wie Kafka sie nannte, verbarg sich die noch unveröffentlichte Erzählung „In der Strafkolonie“, die von einer unfassbar grausamen Tötungs- und Foltermaschine handelt.
Nicht gerade das, was die rund 50 Zuhörer inmitten des Ersten Weltkriegs als Zerstreuung empfinden konnten. Drei Damen wurden ohnmächtig, Kafka lachte hysterisch, und viele Gäste ergriffen die Flucht. Die Kritiken am nächsten Tag gingen wenig freundlich mit Kafka um („stofflich abstoßend“), Und da auch noch Felice verbittert war, ist es wenig verwunderlich, dass Kafka die Stätte seines Misserfolges schnell verließ.
Ungeklärte Vaterschaft
In München ist angeblich auch ein Kind gestorben, das Grete Bloch, eine Geliebte Kafkas, zur Welt gebracht haben will. In einem Brief an Max Brod bezeichnete sie Kafka als dessen Vater. Sicher ist, dass der angebliche Kindsvater selbst nicht die geringste Ahnung von seiner Vaterschaft hatte. Ein Kafka-Sprössling wurde jedenfalls nie ausfindig gemacht.
Alfons Schweiggert, ein präziser Schreiber mit Sinn fürs Detail und souveränem Umgang mit Zitaten, hat in seinen Text immer wieder kommentierende Exkurse eingeflochten, Schlaglichter auf die Zeit und Zeitgenossen: Was wurde etwa aus jenem Franz Blei, der die ersten Kafka-Texte in seiner Zeitschrift „Hyperion“ gedruckt hat? Er wurde von den Nazis als Jude verfolgt, obwohl er keiner war, bettelte sich 400 Mark „für Ausreise und Rettung“ zusammen und emigrierte in die USA, wo er 1942 einsam und mittellos in Westbury/New York starb.
Kafkas Werkle zählen zur Weltliteratur
Kafka hingegen wurde in die oberste Etage der Literatur eingewiesen. Das verdankte er wohl weniger seinen Höllenvisionen als der Reinheit der Sprache, in der er sie beschrieb. Tucholsky etwa urteilte: „Er ist ein Großsohn von Kleist… Er schreibt die klarste und schönste Prosa, die zurzeit in deutscher Sprache geschaffen wird.“ Und Thomas Mann lobte, Kafkas Texte ahmen „die alogische und beklommene Narretei der Träume nach, dieser Schattenspiele des Lebens“. Kafkas drei fragmentarische Romane „Die Verwandlung“, „Das Urteil“ und „Das Schloss“ zählen zur Weltliteratur.
Die Kafka-Kritik war sich über den formalen Rang Kafkas seit je einig. Sie hatte aber auch eine Art blinden Fleck, denn sie übersah, dass der in seiner Thematik, seinen Schreckensvisionen, seiner grausamen Motivwelt bis heute gerühmte Versicherungs-Jurist sich auch immer wieder lyrisch artikuliert hatte. Alfons Schweiggert hat diesen wichtigen Aspekt in „Kleine Seele, springst im Tanze“ (Verlag Sankt Michaelsbund, München, 2004) aufgegriffen. Der „kleinen Seele“ war freilich nicht immer zum Tanzen zumute: „Mein Leben“, seufzt der Verfasser Kafka einmal, „habe ich damit verbracht, mich gegen die Lust zu wehren, es zu beenden“.
Die Tuberkulose machte diesen Schritt unnötig. Franz Kafka starb am 3. Juni 1924 im Sanatorium Kierling bei Klosterneuburg.
Toni Meissner
Alfons Schweiggert stellt sein Kafka-Buch heute um 20 Uhr in der Buchhandlung Lentner (Marienplatz) vor
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