Kritik

Livrierte Diener und Renaissance-Musik auf der Fraueninsel

Musik aus dem Codex Chigi bei den Festspielen Herrenchiemsee
Robert Braunmüller
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Das Kloster auf der Fraueninsel mit dem markanten Turm - einem Wahrzeichen des Chiemgaus. In der Kirche finden im Sommer die ersten Konzerte der Festspiele Herrenchiemsee statt.
Robert Braunmüller 6 Das Kloster auf der Fraueninsel mit dem markanten Turm - einem Wahrzeichen des Chiemgaus. In der Kirche finden im Sommer die ersten Konzerte der Festspiele Herrenchiemsee statt.
Edward Houghton, Martin Steidler, Rebekka Hartmann, Kent Nagano (von links) mit dem Chor Lauschwerk beim Applaus.
Matthias Strobl 6 Edward Houghton, Martin Steidler, Rebekka Hartmann, Kent Nagano (von links) mit dem Chor Lauschwerk beim Applaus.
Das Ensemble Lauschwerk.
Matthias Strobl 6 Das Ensemble Lauschwerk.
Kent Nagano.
Matthias Strobl 6 Kent Nagano.
Die Geigerin Rebekka Hartmann.
Matthias Strobl 6 Die Geigerin Rebekka Hartmann.
Der Musikwissenschaftler Edward Houghton.
Matthias Strobl 6 Der Musikwissenschaftler Edward Houghton.

Vor 50 Jahren war Kent Nagano ein junger Student in Kalifornien. Schon damals beschäftigte sich der Musikwissenschaftler Edward Houghton mit einer modernen Edition des Chigi-Codex, einer um 1500 entstandenen Prachthandschrift mit frankoflämischer Vokalmusik von Johannes Ockeghem, Josquin Desprez und anderen. Nagano fragte immer wieder mal nach, und nun, ein halbes Jahrhundert später, ist Houghton schon längst emeritiert - aber immerhin fertig: In den nächsten Tagen wird die Ausgabe bei einer wissenschaftlichen Konferenz in München vorgestellt.

Da passte, dass der ehemalige Bayerische und bald scheidende Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper mittlerweile neben Herzog Franz als "Schirmherr", Kurator und Hauptdirigent der vom 2018 verstorbenen Enoch zu Guttenberg gegründeten Festspiele Herrenchiemsee wirkt. Diese Konzertreihe beginnt traditionell mit Alter Musik in der Klosterkirche von Frauenchiemsee: der perfekte Anlass, Musik aus diesem in der Vatikanischen Bibliothek befindlichen Codex in Houghtons Ausgabe vorzustellen - kombiniert mit Johann Sebastian Bachs zweiter Solo-Partita für Geige, um auf den weiteren Traditionsweg der mehrstimmigen Musik hinzuweisen.


Nagano erklärte in seinem charmanten Mischmasch aus Deutsch und Englisch diese Zusammenhänge kurz und knapp. Dann erklärte er kokett, dass es ihn nervös mache, vor seinem alten Lehrer zu dirigieren, der danach ebenfalls einen Chorsatz leitete. Dabei konnte eigentlich nichts schiefgehen, denn die Einstudierung hatte Martin Steidler übernommen. Er unterrichtet Chorleitung an der Münchner Hochschule für Musik und Theater und leitet die Audi Jugendchorakademie in Ingolstadt - einen der besten nichtprofessionellen Chöre weit und breit. Ehemalige und gegenwärtige Mitglieder dieses Chors haben sich in einem professionellen Ensemble namens LauschWerk formiert, dessen jugendlich-frische Qualität und schlanker Klang derzeit auch bei den Münchner Opernfestspielen in Händels "Semele" bewundert werden kann.

Steidler leitete auch den Hauptteil des Konzerts mit Auszügen aus einer Missa von Josquin, die auf dem Lied "L'homme armé" basiert sowie einem Marienhymnus von Johannes Regis und einer Motette von Heinrich Isaac. Die von Spezialensembles auch solistisch aufgeführte Musik erklang in kleiner Chorbesetzung mit perfekt ausbalancierter Polyphonie und einem angenehm warm-trockenen, knackigen Klang ohne Vibrato: ein überzeugender, dem kleinen Raum angemessener historisch informierter Ansatz, der sich mehr als Wiedergabe denn als Interpretation versteht, ohne auch nur eine Sekunde neutral zu wirken.

Steidler sang - mit einem Mitglied des Chors - sogar ein kurzes Duett. Rebekka Hartmann ergänzte den Gesang mit Bachs Partita Nr. 2 BWV 1004 für Violine solo, die im polyphonen Meisterwerk der knapp 15-minütigen Chaconne gipfelt. Die Geigerin verzichtete auf übermäßige Schattierungen und ein Übermaß an dynamischen Nuancen. Sie ließ die Musik in erster Linie mit perfekter Technik für sich stehen, was Bach mehr schadet als nutzt.


Nagano ist immer für interessante Programm-Ideen gut, er interessiert sich auch für ältere Musik. Bei den Festspielen Herrenchiemsee kann er seine Qualitäten als Vermittler perfekt einsetzen. Er steht auch für Kontinuität, weil er seit einigen Jahren mit dem von Enoch zu Guttenberg gegründeten Orchester der Klangverwaltung zusammenarbeitet, das sich als Projektorchester aus freien und bei anderen Orchestern angestellten Musikern zusammensetzt. Auch zu Steidler und der Audi Jugendchorakademie gibt es enge Kontakte, die sich am Chiemsee weiterentwickeln lassen.

Das Festival wird derzeit vom Freistaat mit 600 000 Euro unterstützt, der Rest des Budgets von etwa 1,1 Millionen Euro werden durch Kartenverkäufe erwirtschaftet. Der geschäftführende Intendant Josef Kröner, der als Geiger der KlangVerwaltung auch selbst mitwirkt, bezeichnet die Lage als stabil.

Die sehr teuren halbszenischen Opern der Guttenberg-Ära im Spiegelsaal von Schloss Herrenchiemsee wird es allerdings nicht mehr geben, die aus ökonomischer Sicht kritischen Konzerte mit Alter Musik in der stimmungsvollen romanisch- gotisch-barocken Klosterkirche will er sich jedoch weiter leisten. Das ist auch gut so: Neben Bach gab es hier schon unter Guttenberg immer wieder Musik der Renaissance und des Frühbarock zu hören, die sonst in und um München herum eher selten erstklassig zu hören ist. Und Nagano wird es mit seinem Charme auch gelingen, den bisweilen sehr konservativen Hörern auch manches Neue nahezubringen.

Ein anderes Markenzeichen bleibt hoffentlich ebenfalls auf Dauer erhalten: die livrierten Diener, die jeden Besucher am Portal der Kirche einzeln und höchstpersönlich beim Betreten wie Verlassen auf die gefährliche Stolperstufe hinweisen. Noch einen weiteren Fortschritt gibt es zu vermelden: Man muss bei der Rückfahrt mit dem Schiff zum Hafen Prien-Stock in der blitzdurchzuckten Abenddämmerung nicht mehr durstig bleiben.

Festspiele Herrenchiemsee, noch bis zum 30. Juli, vereinzelt Restkarten. Kent Nagano dirigiert am 23. Dezember eine Aufführung von Bachs "Weihnachtsoratorium" mit der Klangverwaltung und der Audi Jugendchorakademie. Infos und Karten bei muenchenmusik.de

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