Liebevoll im Ohr, platt im Auge
Salzburger Festspiele: Alban Bergs „Lulu“ als Sänger- und Orchesterfest in der Felsenreitschule
Normalerweise stochern bei dieser Oper die Dirigenten in einer graubraunen Orchestersoße. Wenn aber die Wiener Philharmoniker Alban Berg spielen, wird sinnlich, was in tausend Büchern nachzulesen ist: wie sehr diese Musik Mahlers letzte Symphonien fortsetzt, der verlorenen Tonalität nachtrauert und in luxuriösem Impressionismus schwelgt. Dazu gehört auch ein Dirigent wie der ausgezeichnete, am Ende von ein paar Unbelehrbaren ausgebuhte Marc Albrecht. Er begleitete die Sänger hingebungsvoll, ohne das Orchester zu einer verschleierten Hintergrundmusik zu degradieren, wie leider oft vorkommt. Besser wurde diese schwierige Partitur in letzter Zeit nicht umgesetzt.
Die Besetzung war nicht minder festspielwürdig. Niemand setzt Bergs feinste Schattierungen zwischen Sprechen, Sprechgesang und Singen derzeit so exakt und zugleich natürlich um wie Michael Volle, der überragende Wozzeck der Bayerischen Staatsoper. Er charakterisierte den Dr. Schön präzise als innerlich verfaulten Machtmenschen, dem Leben und Liebe entgleiten. Der Münchner Operngängern ebenfalls wohlbekannte Pavol Breslik huldigte als Maler dem Zwölfton-Belcanto. Bei Thomas Piffka harmonierte der etwas trockene Gesang bestens mit dem intellektuellen Habitus, den die Inszenierung dem Alwa verlieh.
Muffig riechendes Frauenbild à la Freud
Noch die kleinste Rolle wurde luxuriös gesungen. Leider blühte Patricia Petibons Sopran nur im Lied der Lulu und dem Duett mit Alwa wirklich auf. Über ihr unnatürliches Deutsch ließe sich hinweghören, leider aber blieben auch die Koloraturen hart – und ihre Lulu ein Kunstpüppchen, woran auch die unglückliche Regie von Vera Nemirova ihren Anteil hatte.
Bei „Lulu“ stellt sich nach einem halben Jahrhundert Emanzipation schon die Frage, was uns das nach muffigem Siegmund Freud riechende Frauenbild dieser Oper noch zu sagen hat. Die Nemirova hatte darauf keine szenische Antwort parat. Sie wollte offenbar auf die bewährte Sicht der Lulu als Projektionsfläche männlicher Wünsche hinaus. Aber bald war die Inszenierung wiederbei der auf Männern reitenden Femme fatale angelangt, was heute verschlissen wirkt. Auch die an sich überzeugende Idee, den Athleten (Thomas Johannes Mayer) als Wiedergänger von Dr. Schön zu deuten, hätte man präziser umsetzen müssen.
Leider war die Ausstattung von Daniel Richter auch keine große Hilfe. Da Lulus Porträt für die Handlung bedeutsam ist und das erste Bild in einem Atelier spielt, wirkt es naheliegend, einen prominenten Künstler zu beauftragen. Aber er hängte wie alle Maler die Bühne mit flächigen Riesenformaten voll, obwohl das Theater eine dreidimensionale Angelegenheit zu sein pflegt.
Erotik mit dem Phallus-Hammer
Für die Boulevard-Komödie des zweiten Akts stellte Richter immerhin eine aufklappbare Pyramide vor ein Fratzenbild, dem zuletzt eine stimmungsvolle Winterlandschaft folgte. Im ersten Akt gab es ein phallisches Objekt, das sich einem Kreis zuneigte. Aber etwas subtiler scheint die Erotik dieser Oper dann doch gestrickt. Und eine Spur erkennbarer Ironie hätte auch nicht geschadet.
Die von Friedrich Cerha vollendete Paris-Szene fügte sich dank des bravourösen Dirigenten und der blendenden Philharmoniker zwangloser ein als üblich. Sie wirkte diesmal überhaupt nicht problematisch. Die Regisseurin bügelte hier abgehangene Einfälle ihres Meisters Peter Konwitschny auf: Der Anfang wurde wiederholt gesprochen und das Publikum der Felsenreitschule in die heruntergekommene Gesellschaft der Spekulanten und Bankrotteure einbezogen.
Da war er wieder, der Holzhammer des Regietheaters, der offene Türen mit Gewalt einrennt. Dass die Salzburger Festspiele ein bisschen dekadent sind, bestreitet nicht mal der scheidende Intendant Jürgen Flimm. Immerhin wird dort Alban Berg liebevoller musiziert, als es der Opernbetrieb sonst zulässt.
Robert Braunmüller
Wieder am 4., 6., 11., 14. und 17. August 2010, Karten: www.salzburgerfestspiele.at oder Tel. 0043-662-8045-500; 3sat überträgt die "Lulu" am 7. August, 20.15 Uhr