Lieber Gott, wecke uns auf
Den Tölzer Knabenchor plagt das Problem vieler mittelständischer Unternehmen: Es ist kein Nachfolger für den Gründer in Sicht
Seine Solisten sind als Drei Knaben in Mozarts „Zauberflöte“ bei den Salzburger Festspielen oder im Nationaltheater unentbehrlich. Der Tölzer Knabenchor singt in vielen Konzerten der Philharmoniker oder des BR-Symphonieorchesters, aber eigene Auftritte sind in München ausgesprochen selten.
Das ist schade. Johann Sebastian Bach hatte Knabenstimmen im Ohr, als er seine Chorwerke wie die Matthäus- oder Johannespassion niederschrieb. Aber auch die meisten historisch informierten Aufführungen nehmen darauf keine Rücksicht. Das ausverkaufte Konzert der Tölzer mit Motetten der Bach-Familie in der Allerheiligen Hofkirche bewies das Interesse, und wieder wunderte man sich, wieso der Chor in München keine große Passion wagt.
Schuld ist das Geld: Im Unterschied zu den Regensburger Domspatzen oder dem Windsbacher Knabenchor sind die Tölzer ein mittelständisches, von keiner Kirche oder dem Staat subventioniertes Unternehmen, das aus einem Tölzer Pfadfinderchor hervorging und seit 1956 unter der Leitung von Gerhard Schmidt-Gaden steht. Und wie andere Mittelständler hat auch der 71-jährige Gründer ein Nachfolgeproblem.
Es wackelt
Es mag herzlos wirken, dies offen auszusprechen. Aber bei dem Konzert wurde es ohrenfällig: Mancher Einsatz wackelte wegen Schmidt-Gadens undeutlicher Zeichengebung. Rasche Passagen kamen rhythmisch undeutlich. Die doppelchörigen Motetten älterer Vertreter der Bach-Familie beeindruckten in ihrer Schlichtheit, aber die Werke des Thomaskantors selbst wirkten – in der Halleluja-Fuge von BWV 225 etwa – mehr wie ein bewältigter Kraftakt denn als ausgefeilte Interpretation. Erst beim zugegebenen „Lobet den Herrn alle Heiden“ fanden die Tölzer zu der ihrem Ruf gemäßen Homogenität.
Noch ist der Zulauf zum Chor ungebrochen: Es gibt doppelt so viele Bewerber wie freie Plätze, obwohl nach vier Jahren harter Auslese nur noch die Hälfte bleibt. Schmidt-Gadens Ruf als Stimmbildner ist groß. Aber wenn nicht bald ein Nachfolger auftaucht, gerät sein Erbe in Gefahr.
Robert Braunmüller