Lewitscharoffs literarische Himmelfahrt

Wunder gibt es immerwieder: Der neue Roman der Büchnerpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder"
Kein Mensch glaubt heute noch an Wunder. Und schon gar nicht, wenn dieser Mensch Gottlieb Elsheimer heißt. Denn er ist Wissenschaftler. Als „knallharter Realist“, wie er sich selbst nennt, hat Elsheimer eine Professur für Romanistik an der Uni Frankfurt und als Dante-Spezialist weltweit einen Namen. Es versteht sich, dass Elsheimer die Dantesche-Wunderwelt der Hölle, des Fegefeuers und des leuchtenden Paradieses, die aus den prachtvoll verzahnten Versen emporsteigt, mit den klaren Augen des Analytikers betrachtet.
Uns fehlt die Offenheit für das Metaphysische
„Ein Verächter der Bibel bin ich allerdings nicht,“ bekennt er: „In einer wissenschaftlich distanzierten Weise halte ich große Stücke auf das Buch der Bücher.“
Seit jeher treibt Sibylle Lewitscharoff die Frage nach dem Wunderbaren um, das sich dem zeige, der durch die Hülle der aufgeklärten Vernunft hindurchzublicken vermag. In ihrem heute erscheinenden Roman „Das Pfingstwunder“ wagt sich die Büchnerpreisträgerin allerdings noch einen Schritt weiter: Sie nimmt das biblische Pfingstwunder wörtlich. Ihre Figuren, die sich zu einem Dante-Kongress in Rom versammeln, werden am Ende sämtlich vom Heiligen Geist erleuchtet und fahren gen Himmel. Alle 33! Nur einer nicht: Gottlieb Elsheimer, der fassungslos, verstört zurückbleibt.
Schon in den Tagen zuvor macht sich unter der Schar internationaler Dantisti eine unerklärliche Heiterkeit breit, und, o Wunder, je mehr die Steifheit von ihnen abfällt, desto lebendiger werden ihre Vorträge. Nur Elsheimer sieht sich einem Ereignis gegenüber, das er sich auch mit der schärfsten Vernunft nicht erklären kann. Sein Leben gerät aus den Fugen.
An diesem Schicksal eines Rationalisten hat zweifellos Dantes Lehrmeister, der Theologe Thomas von Aquin, mitgewirkt. Denn aus dessen Sicht ist Elsheimer ein Dummkopf, verbannt in den engen Horizont seiner blinden Aufgeklärtheit. Will Lewitscharoff also am Ende gar das helle Licht der Vernunft verdunkeln?
Dante äußert in seiner „Göttlichen Komödie“ harsche Kritik an den Verhältnissen Italiens, zumal an seiner Heimatstadt Florenz, die zu seiner Zeit, um 1300, von politischen Machtkämpfen zerrissen war. Zugleich standen Kunst, Literatur, Wirtschaft in Blüte – laut Dante regieren in Florenz Glanz und Fortschritt, dahinter aber wütet moralische Verkommenheit.
Und Lewitscharoff knüpft mit Anspielungen, Zitaten, Auslegungen ein so feinmaschiges Netz zur Commedia, dass ihr Roman weit mehr ist als das beschwingte Abbild eines fiktiven Dante-Kongresses: Das Pfingstwunder lässt Dantes Poesie gleichsam wiederauferstehen. Damit aber ist auch klar: Über den Roman überträgt sich Dantes Kritik auf unsere Gegenwart.
Dante freilich war alles andere als ein finsterer Denker. Mit seinen wissenschaftlichen Kenntnissen war er seiner Zeit voraus und hat daher die Erde als Kugel ins Zentrum seines himmlischen Kosmos gestellt. Auch war er mit allen geistigen Debatten des Hochmittelalters vertraut und hat gerade deswegen die Macht einer göttlichen Liebe, die für ihn auch Erkenntnis und Wissen beschert, den Machenschaften seiner Zeitgenossen gegenübergestellt, denen er Geldgier und Egoismus vorwarf.
Genau in diesem Punkt folgt Lewitscharoff dem Jahrtausenddichter: Sie kritisiert nicht die Vernunft, sondern die Verabsolutierung rationaler Weltbilder durch den Verlust der Offenheit für das Metaphysische. So rechnet sie denn auch mit der Intelligenz des Lesers: Ihm bleibt am Ende das letzte Urteil überlassen. Ohnehin wird er rasch die eigentliche Botschaft des wunderbaren Pfingstwunders erfassen. Sie lautet: Leute, nicht darüber reden, sondern schlagt nun selbst den Dante auf!
Sibylle Lewitscharoff: „Das Pfingstwunder“ (Suhrkamp, 350 Seiten, 24 Euro) Lesung: 27. Oktober, 19.30 Uhr, Buchhandlung Literatur Moths, Rumfordstraße 48, 12 Euro, tel.: 29 16 13 26, moths@li-mo.com